39. Kapitel - Sterben
Sterben. Er war viel zu bereit dafür. Anders als der Fischer, den er aus dem Wasser gezogen hatte, während der Sturm sich gelegt hatte. Für einen Augenblick war er versucht gewesen, sich nicht gegen den Drachen zu wehren. Wenn Vica ihn von Ebos geschickt getötet hätte, wäre das ebenso gut und weit weniger anstrengend gewesen. Es stand nur zu befürchten, dass sie anderes plante und so hatte er sich in die Fluten stürzen lassen, ein zweites Mal umgeben von herrlich stiller Kälte. Er war so furchtbar müde. Der Überlebenskampf des Fischers, der sich mit letzter Kraft gegen sein Segel gewehrt hatte, das ihm die Glieder band und ihn ertränken wollte, hatte Machairi allzu deutlich vor Augen geführt, wie sehr er selbst mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Nach 102 Jahren des Aushaltens nicht endenden Unheils war es mehr als genug. Es war unbegreiflich, dass Merifas noch immer genug Angst vor dem Tod hatte, um sich jeden Tag aufs Neue über die Zeit zu quälen. Er war den immerwährenden Schmerz des Mals Leid, den Druck von Verantwortung, die andere ihm aufgeladen hatten, und die ewige Geheimniskrämerei. Es war kein Geheimnis, was ihn erwartete und er konnte nicht behaupten, dass er besonders erpicht auf noch mehr Elend war. Doch schon die vage Hoffnung, zwei geliebten Menschen noch helfen zu können, machte den Gedanken weniger bitter.
Sein Weg führte ihn hinab in die alten Kerker. Es war kühl ohne den Mantel und er fühlte sich ungewohnt verletzbar in der feuchten Kälte, während er an leeren und vermoderten Zellen vorbeischritt. In längst vergessenen Zeiten war der Bienenstock eine Gefängnisinsel gewesen, bevor sein Großvater ein neues und besseres Gefängnis hatte bauen lassen, das nicht direkt vor der Stadt lag. Menschen, die um jeden Preis eine Bleibe suchten, hatten ihre Häuser über den Gefängnishallen gebaut. Lange hatte sich niemand hinabgewagt, abgeschreckt von vollkommen haltlosen Geistergeschichten, und nach und nach waren die Gefängnisse in Vergessenheit geraten und zu einer reinen Gruselgeschichte geworden. Spätestens seit der Usurpator den Bienenstock zur einzigen Zuflucht für Arme und Glücklose gemacht hatte, waren die ehemaligen Gefängnistunnel leer. Doch Kylon war ein neugieriges Kind gewesen, hatte schon als Kleinkind immer wieder Gelegenheiten gefunden, sich davonzustehlen, und das Schloss erkundet. Ein einziges Mal hatte sein Vater ihm den heutigen Bienenstock gezeigt. Es hatte keine Palisade gegeben, keine lauten Spielhallen, keine Freudenhäuser und keine Flut von schiefen Hütten, nur ein paar Zelte und ein gewaltiges Netz aus Gängen und Zellen. Bei seiner Rückkehr hatte er kaum glauben können, wie viel sich in mehr als achtzig Jahren verändert hatte, und es hatte eine Weile gedauert, bis er sich in dieser Welt zurechtgefunden hatte. Hierher war er geflüchtet und hier hatte er die letzten Jahre verbracht, doch erst heute wurde ihm klar, dass diese Katakomben Ebos‘ Reich nicht zu unähnlich waren. Gedankenverloren strich ein weißer Handschuh über feuchten Stein und dann riss Machairi sich in die Gegenwart zurück. Kaum zu glauben, dass er tatsächlich noch sentimental werden konnte.
Es wurde nicht besser, als er die Tür zu der einzig belegten Zelle in diesem tiefsten Teil des Gefängnisses öffnete. Für einen kurzen Augenblick glaubte er wieder, Leéns stockenden Atem zu hören und ihr Licht schwinden zu fühlen. Außerdem fühlte er sich unwohl in der Nähe des ehemaligen Gottes. Trotzdem war es die letzte Gelegenheit für ein Gespräch mit dem einzigen Gott, der Teil der Kämpfe werden würde – ob er es wollte oder nicht. Es wäre töricht gewesen, diese Möglichkeit nicht zu nutzen, auch wenn er nicht darauf brannte. Doch die Zelle war leer. Machairi unterdrückte ein Schmunzeln. Er hatte nicht abgeschlossen, als er Leén fortgebracht hatte. Es war ihm gleichgültig gewesen, was der Gott tat, nachdem er das Leben seiner Tochter für kurze Zeit verlängert hatte. Nachdem er zuvor keine Anstalten gemacht hatte, sich auch nur über die Lage zu beschweren, hatte der Schatten jedoch nicht angenommen, dass der Gott gehen wollte. Es sollte doch niemand sagen, dass man ihn nicht überraschen konnte.
Machairi hatte mehrere Theorien, wohin es den Gott verschlagen hatte, doch er hatte nicht das Bedürfnis, sie zu überprüfen. Die erste Möglichkeit war sein eigenes Arbeitszimmer und auch wenn ihn seine eigene Schwäche in den Wahnsinn trieb, konnte er nicht dahin zurückgehen. Nicht so lange sie dort war. Allein die Erinnerung an ihren reglosen Körper in seinem Bett drohte ihn in die Knie zu zwingen und ein paar Stunden würde er noch durchhalten müssen. Die Aussicht, Leén ausgerechnet in der Unterwelt wiederzusehen, war ebenso schön wie schrecklich. Es war geradezu absurd. Er sehnte sich danach, sie wiederzusehen, nur um ihr dann dabei zu helfen, ihn für immer zurückzulassen, ebenso wie Ila. Ihm stand eine einsame Ewigkeit bevor und trotzdem sollte keine der beiden Frauen mehr Zeit als nötig in Ebos‘ dunklen Hallen verbringen.
Die dunklen Augen glitten über das unordentliche Bett, auf dem noch Spuren von Leéns Blut zu sehen waren, und über die geöffnete Gittertür. Der Gott hatte hier Magie gewirkt. Sie klebte in der Luft, waberte wie goldener Glitzerstaub um ihn herum und obwohl von den Kräften des ehemaligen Gottes fast ebenso wenig übrig war wie von seinen Eigenen, war die Präsenz stark. Jico war noch nicht lange fort und hatte viele unterschiedliche Zauber versucht. So viele, dass beim besten Willen nicht mehr zu bestimmen war, welche es gewesen waren, so sehr vermischten sich die Magiespuren miteinander und zeichneten ein Gewirr in den Raum, das nicht zu ordnen war. Vermutlich war genau das die Absicht gewesen und Kylon hatte nicht die Energie, sich weiter damit auseinanderzusetzen. Was immer der Gott nun tat, war nicht hier in die Luft geschrieben und Machairi hatte kein Interesse daran, ihn zu suchen. Wenn Jico sich selbst eine bedeutende Rolle zusprach, würde er früh genug wiederauftauchen und wenn nicht, mussten sie sich wenigstens mit einem Gott weniger auseinandersetzten. Denn je mehr übermenschliche Kräfte im Spiel waren, desto schlechter waren die Situationen zu kalkulieren und Machairi konnte darauf verzichten, dass ihm noch ein Gott ins Handwerk pfuschte. Es war schon schlimm genug, dass er sich dauerhaft Ebos‘ Einfluss widersetzen musste, der mit jeder vergehenden Sekunde etwas aufdringlicher zu werden schien und ihn hoch zum Palast zwingen wollte. Als hätte er noch irgendein Recht gehabt, dieses Erbe anzutreten, selbst wenn er es gewollt hätte. Niemand würde glauben, dass er war, wer er vorgab zu sein, und selbst wenn war so viel schwarze Magie im Spiel gewesen, dass man selbst den weniger abergläubigen Cecilian kaum einen Vorwurf hätte machen können, wenn sie ihm nicht vertrauten. Sein Anspruch war in der Nacht verflossen, in der er etwas zu langsam gestorben war.
Weil er sich nicht länger dem göttlichen Glanz und dem Anblick von Leéns Blut auf dem Laken aussetzen wollte, drehte der Messerdämon sich ab und verließ die Katakomben wieder, das Ziehen in der Brust und auf der Haut ignorierend. Die Wunde, die die Krallen des jungen Drachen hinterlassen hatte, brannte und die Trauer hing bleiern an jedem seiner Schritte. Wenn er nur halb so taub und abwesend war, wie er sich fühlte, würde Zedian keine magische Waffe brauchen, um ihn zu überwältigen. Gwyn und Mico hatten es gesehen, aber keiner von ihnen hatte wirklich begriffen, wie sehr der Schatten auseinanderfiel. Obwohl die beiden jungen Männer vermutlich die letzten Menschen in der sterblichen Welt waren, die ihn gut genug kannten, um ihn einzuschätzen, taten sie sich noch immer schwer, an der Fassade vorbeizuschauen, die in den letzten Jahren selten gewackelt hatte und die er jetzt nur noch dürftig aufrechterhielt. Kylon war nur froh, dass er nichts mehr von Merifas brauchte. Eine weitere Begegnung mit dem Paktierer hätte ihm mehr abverlangt, als er leisten konnte.
Mit Kopfschmerzen verließ Machairi die Katakomben, wich den größten Flüchtlingslagern aus und stieg auf die Palisade des Bienenstocks, um auf das Meer hinauszublicken. Es regnete schon wieder. Lange dünne Regenfäden tropften ins Meer und auf ihn hinab. Sie verschleierten die Irreninsel, als wollten sie Vica Schutz bieten, während sie ihre letzten Vorbereitungen traf. Er hätte sie töten sollen, als sie versucht hatte, Zedian gegen ihn auszuspielen. Dieser Fehler würde viele Leben fordern, denn die Blinde wollte Blut sehen und er hatte zu wenig Zeit, zu wenig Kraft und zu wenig Gelegenheit, um diese Fehlentscheidung zu korrigieren. Kylon würde vor seinem Tod keine Drachen mehr bekämpfen und seine Glieder waren so schwer, dass er Vica eine realistische Chance hätte einräumen müssen.
Warum hatte sie nicht einmal ruhiger sein können? Hätte sie einen Augenblick innegehalten, um nachzudenken, anstatt sich von ihrer hilflosen Wut instrumentalisieren zu lassen, hätte sie vielleicht gesehen, was sie tat. Kylon fragte sich, ob es einen Moment gegeben hatte, da er noch etwas hätte ändern können. Vielleicht hätte er Gwyn zu ihr schicken sollen, um sie zu beruhigen. Niemand konnte Gwyn lange böse sein. Auch er nicht. Der Feuerspucker war wahrlich bemerkenswert gutherzig. Hätte seine bedingungslose Hilfsbereitschaft nicht viel zu oft im entscheidenden Moment mehr Probleme gebracht als gelöst, wäre er zu beneiden gewesen. Umso beachtenswerter, dass er es trotzdem immer wieder tat. Selbst jetzt wollte er Feen retten, während sie wahrlich andere Probleme zu bewältigen hatten. Ein riskantes Unterfangen. Wenn er nicht bald zurückkam, würde er ihn suchen gehen müssen. Machairi hatte die Hilfsaktion nur aus zwei Gründen gestattet. Erstens würde er nicht mehr die Zeit haben, um eine Lösung für Gwyns feuriges Problem zu finden, und Machairi hoffte, dass die Feen das an seiner statt tun würden. Und zweitens war die Unterwürfigkeit des Zhakis nervenaufreibend und schwer zu ertragen. Zwar fand der Feuerspucker langsam zu sich selbst zurück, aber bisher hatte er nicht verstanden, was das richtige Maß an Folgsamkeit war.
Machairi strich sich die regennassen Strähnen aus dem Gesicht und seufzte. Vielleicht machten ihn seine letzten Stunden doch sentimentaler, als gut war. Er konnte schließlich nicht ewig auf der Palisade stehen und den Wellen beim Rauschen zusehen. Stattdessen sollte er seine letzten Stunden sinnvoll nutzen. Es gab noch viel zu tun. Selbst wenn er es schaffte, Ebos Karemis‘ Erbe vorzuenthalten, stand Kefa dennoch der Angriff einer rachsüchtigen Drachenbesitzerin und all jener Kreaturen bevor, die Ebos bereits in die sterbliche Welt gebracht hatte und die sicher gerade in diesem Moment auf den rechten Moment lauerten. Also riss er sich von den ineinander schlagenden Wellen los und suchte sich einen verdeckten Weg durch die Stadt.
Er hatte Vica zu viel beigebracht. Es war ein kluger Schachzug, den Fürsten zu töten, wenn man den Bienenstock verwundbar machen wollte. Auch Evima einzusetzen war klug, auch wenn das vielleicht eher Ebos‘ Betreiben zu verdanken war. Der Bienenstock zerfiel ebenso wie der Messerdämon und wenn nicht beiden der Tod bevorstehen sollte, musste etwas geschehen.
Gina zu finden, war nicht schwierig. Die Faust verdiente die Bezeichnung eines Schattens im Grunde nicht. Sie war nicht interessiert an Verborgenheit oder Stille. Sie wollte für ihre Taten gefeiert werden, bahnte sich ihren Weg in der Welt mit der größtmöglichen Bühne und ließ nie eine Gelegenheit aus, sich zu präsentieren. Die Gespräche folgten jedem ihrer Schritte und sie suhlte sich für gewöhnlich in der Aufmerksamkeit und der ehrfürchtigen Bewunderung, die ihr der Handschuh einbrachte. Man brauchte nichts zu tun als zuzuhören. Wenn die Bienen hinter vorgehaltener Hand summten, dann waren Ginas Bewegungen leicht nachzuverfolgen.
Selten war er, seit er wieder aufgewacht war, so benommen gewesen wie jetzt. So bemerkte er den jungen Mann erheblich später als sonst und es hätte nicht viel gefehlt, um auf den spontanen Hinterhalt hereinzufallen. Es war mehr ein Reflex als eine Entscheidung, dem Angreifer mit einem Ducken auszuweichen und ihm die Waffenhand zu verdrehen. Ein schlechtes Schwert, das mal einem Gardisten gehört haben musste, klapperte auf den nassen Stein der Straße und sein Besitzer folgte. Messer hielten seine Ärmel am Boden und eine weiter Klinge rutschte in den weißen Handschuh. Doch Kylon hielt inne, bevor er diesen Mann ernsthaft verletzte. Die Kleidungsstücke, die die blanken Klingen durchstochen hatten, waren so verblichen und löchrig, dass ein paar Löcher mehr oder weniger gar nicht auffallen würden. Der Junge war etwa sechzehn und er hatte eine Familie, die er selbst als wehr- und hilflos ansah, obwohl es mindestens bis vor kurzem einen anderen Ernährer gegeben hatte. Er hatte seine Ängste gegeneinander abgewogen und offenbar beschlossen, dass einen Schatten anzugreifen weniger schlimm war, als dieser Familie beim Verhungern zuzusehen. Nun überdachte er diese Entscheidung.
„Es tut mir leid“, brachte er mit zittriger Stimme hervor und versuchte nicht mal, sich von den Messern zu befreien. Er wollte noch mehr sagen, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken.
Machairi verkniff sich das Augenrollen nicht. Musste dem am Boden Liegenden nicht klar sein, dass er mit dem Schreck davonkommen würde, wenn er sich nicht vollkommen dumm benahm? Kylon wollte in seinem Leben niemanden mehr töten und wenn er es gewollt hätte, wäre es längst zu spät gewesen. „Thredian ist tot. Eine Auszahlung seines lächerlichen Kopfgelds sollte auch dem letzten Idioten unwahrscheinlich vorkommen.“ Machairi beobachtete das Schaudern, das der Klang seiner Stimme hervorrief und das hektische Nicken einen Augenblick später. „Aufstehen.“
Der junge Angreifer zerrte einmal erfolglos an seinen Ärmeln, bevor der Stoff nachgab. Es war nicht schwer, ihm die Überraschung anzusehen, als er richtig Kraft aufwenden musste, um die Klingen aus der Straße zu ziehen, und als er sie in der Hand hielt, betrachtete er sie von allen Seiten. Ja, er würde die Waffen vermissen. Machairi wusste nicht, was mit den Messern geschehen würde, wenn er starb. Er würde sie wohl kaum mit in die Unterwelt nehmen können, auch wenn es beim letzten Mal ein nicht auszugleichender Vorteil gewesen war, sie bei sich zu haben. Der Angreifer rappelte sich auf und wagte einen kurzen Blick. Dieser Junge war kein Kind des Bienenstocks. Er musste einer der Flüchtlinge sein und das Schwert würde von einem der Deserteure stammen. So wenig wie er damit umgehen konnte und wie er selbst die filigraneren Waffen hielt, war er offenbar nicht bewandert damit. Seine fehlende Kompetenz hielt ihn allerdings nicht davon ab, sich zu überschätzen. „Braucht Ihr vielleicht noch jemanden?“, fragte er vorsichtig, sobald er den ersten Schreck so weit überwunden hatte, dass er seine Stimme wieder benutzen konnte. Wortlos hielt Machairi die schwarze Hand auf. Behutsam legte der Flüchtling die Messer auf den schwarzen Stoff. „Ich kann arbeiten“, fuhr er fort, als er keine Antwort erhielt.
Normalerweise hatte der Schatten keine Verwendung für Bauernkinder ohne Potenzial oder Fähigkeiten, ganz sicher nicht für solche, die sich nicht einmal bemühten, seinem Blick standzuhalten. Es war immer wieder wirkungsvoll und geradezu faszinierend, wie sehr sich die Menschen unter Schweigen wanden und wie viel bedeutungsvoller Worte wurden, wenn man sparsam mit ihnen umging. Doch heute konnte er sogar stümperhafte Hilfe gebrauchen. „Bring möglichst viele Menschen möglichst weit fort von hier.“ Kurz tastete er ein paar Drawken, damit der Kerl es sich leisten konnte, andere dazu zu bringen, die Hauptstadt zu verlassen, anstatt sich erneut auf die Lauer zu legen, doch er hatte seinen Geldbeutel dem geschädigten Fischer gegeben und alles, was noch im Mantel gesteckt hatte, war in den Klauen eines Drachen geblieben.
„Aber wir sind doch gerade erst …“
„Nur wer kämpfen kann, bleibt.“ Er würde diesen spontanen Auftrag weder erklären noch rechtfertigen. Das Unverständnis seines Gegenübers war ihm egal. Machairi wandte sich ab und setzte seinen Weg fort. Er würde wohl nie mehr verstehen, warum niemand jemals mitdachte. Zu Anfang hatte er seine Leute tatsächlich für begriffsstutzig gehalten, doch es hatte sich über die Jahre gezeigt, dass die offensichtlichsten Dinge eine Herausforderung für die meisten Köpfe darstellten. So hatte er sich daran gewöhnt, Verwirrung zu hinterlassen, und auch dieses Mal war es nicht anders.
Gina war wie so oft kurz davor, sich in eine Schlägerei zu verwickeln, als er sie fand. Sie stand einem klobigen Rausschmeißer aus dem Möwennest gegenüber und fauchte ihn an. „Die alte Schachtel weiß überhaupt nicht, was sie tut. Du kannst gerne allein in der Unterwelt verrecken!“
Diese Worte hätten keinen Adrenalinschub auslösen dürfen. Sie hätten nicht den leisesten Hauch von Angst hervorrufen sollen und er hätte von sich erwartet, darüber hinwegsehen zu können. Trotzdem bemerkte Kylon, wie sich seine Schultern strafften und er einen Blick hinauf zur diesigen Stadt warf. Leider war davon auszugehen, dass auch auf Gina bereits ein leeres Haus wartete und dass sie sich ihren Platz in der Unterwelt längst verdient hatte, egal, ob sie nun Evima unterstützte oder nicht.
Der Blick der Rothaarigen fiel zu ihm, als er näher herantrat. Sie war erleichtert, ihn zu sehen, auch wenn sie es hinter Wut zu verstecken versuchte. „Du! Dann kannst du diesem Halbhirn direkt erklären, warum wir uns nicht auf Evimas Führung einlassen wollen und wie sich alles verändern wird, wenn er es dennoch tut!“ Sie wollte dem klobigen Kerl vor die Brust stoßen, aber Machairi blieb neben ihr stehen und hielt sie davon ab. „Was soll das! Der und seine Kumpels meinen, dass die alte Trulla uns beschützen will.“
„Kümmere dich nicht um jene, die sich nicht selbst helfen können, wenn der Bienenstock zum Schlachtfeld wird. Für alle Befürworter findet sich sicher ein Platz in den ersten Reihen.“ Gina war die Person, der er zutraute, viele Menschen in Sicherheit zu bringen, selbst wenn diese nicht verstanden, wieso. Es war lange her, dass Katastrophen im ähnlichen Ausmaß über Cecilia hereingebrochen waren. Es war wichtig, dass sie in jenem Augenblick, da Vica ihren ersten Schritt machte, so wenig Opfer wie möglich fordern würde.
„Ah ja, und wohin soll ich die kümmern?“ Gina zog die Stirn in Falten, warf noch einen bösen Blick auf den Rausschmeißer und zog den Handschuh zurecht. „Wir sind doch schon die letzte Zuflucht.“ Sie kehrte ihrem Streit den Rücken und machte einen Schritt von ihm weg. „Soll ich jetzt etwa die Probleme lösen, für die selbst du keine Antwort hast?“
Ja, in etwa. „Ich kann nicht überall sein, Gina. Bevor du deine Zeit mit Evimas Anhängern verschwendest, kannst du etwas Sinnvolles tun.“ Es würde genügend Bienen geben, die lieber auf die neue Bienenkönigin hören würden als auf die Schatten, aber jeder einzelne, der sich ein Stück weiter rettete, selbst wenn es nur hinauf in die Stadt war, war ein Triumph weniger auf Ebos‘ Seite, zumindest für den Augenblick.
„Wenn wir wirklich von Dämonen und Göttern angegriffen werden, ist ohnehin alles in Trümmern. Was sollte mich davon abhalten, alles zu machen, was ich will? Der Bienenstock ist so gut wie tot.“
„Du sollst die Bienen beschützen, nicht den Bienenstock.“
Sie wollte nach ihm schlagen. Wie immer ärgerte sie sich darüber, dass er ihr vorschrieb, was sie tun sollte, und wie immer würde sie es zähneknirschend dennoch tun, schon allein, damit sie sich ausführlich darüber beschweren konnte. „Verstehe. Und was machst du in der Zeit Sinnvolles?“
Sterben. „Ebos aufhalten, so viel ich kann.“ Gina war lange Zeit die einzige Person gewesen, in der er wenigstens eine Art Freundin gesehen hatte. Sie war die erste verzweifelte Seele gewesen, die er im Bienenstock aufgesammelt hatte, und sie hatte sich als überaus lernfähig erwiesen. Mit ihr war das erste konstante Mitglied einer Gruppe gekommen, nur wenig später gefolgt von Vica. Machairi hatte sein Vertrauen stets sparsam vergeben, aber Gina hatte lange Zeit einiges davon genossen. Er hatte ihr trotzdem nicht gesagt, wer er war, und er würde das jetzt nicht nachholen. Die Reaktion von Gwyn und Mico hatte ihm gereicht, von Leén ganz zu schweigen. Der Gedanke an sie machte das Denken schwieriger. Nicht mehr lange.
Gina verschränkte die Arme vor der Brust. „Präzise wie immer“, sagte sie und verdrehte die Augen. „Hauptsache, du bist auffindbar, wenn der Mist richtig losgeht. Scheint ja nicht mehr lange zu dauern.“ Sie schüttelte die Locken zurück und beeilte sich, von ihm wegzukommen, damit sie das Gespräch beendete, bevor er einfach gehen konnte. Sie hatte gerne die Oberhand.
Der klobige Rausschmeißer, der nur feindselig zu ihnen hinübergeblickt hatte und nicht dumm genug war, sie in ihrem kurzen Gespräch zu unterbrechen, warf die Hände in die Luft, als die Faust ihn ignorierte. „He, was verziehst du dich jetzt einfach?! Wir haben da noch etwas zu klären“, stieß er hervor.
Die Faust hielt inne. Sie drehte sich zu dem Mann, ging kurzentschlossen auf ihn zu und schlug ihm kräftig die weiße Faust ins Gesicht. Blut quoll aus der schiefen Nase und die Knie des Mannes gaben nach, als es ihn völlig unerwartet traf. Amateur. „Danke. Das hätte ich fast vergessen“, log Gina in neutralem Tonfall und ging. Sie würde sich gut um die Bienen kümmern und sie brachte ihn zum Schmunzeln. Die Faust brauchte ihn nicht mehr.
Hätte das nur ausnahmslos für alle gegolten. Davon ausgehend, dass sie alle durch irgendein Wunder das Bevorstehende überstehen würden, hätte er sie lieber mit guten Aussichten verlassen. Dabei hätten die Dinge sehr viel schlechter stehen können. Mico würde sein Leben in den Griff bekommen, solange er es nicht versäumte, sich ordentlich um seinen Sohn zu kümmern, und Vica würde ihren Angriff, wenn sie Glück hatte, nicht überleben. Der Bienenstock würde zurechtkommen, wie er es immer getan hatte, und selbst die falsche Prinzessin hatte einen fähigen Sultanssohn, der ihr helfen würde, die Spuren von Ebos‘ Einfluss zu überwinden. Nur Gwyn hatte ein Problem, für das auch Machairi in der Kürze der verbleibenden Zeit keine Lösung finden würde. Er würde seiner eigenen feurigen Magie erliegen und es gab nichts, was sie tun konnten. Die einzige Möglichkeit sah der Schatten in den Feen und er konnte nur hoffen, dass der Feuerspucker die kleinen Wesen rechtzeitig befreien würde, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen.
Tatsächlich rang Kylon mit sich. Er hatte noch einige Dinge organisieren wollen, bevor das Ende kam, aber seine Schritte zogen ihn in Richtung des Palasts. Wenn er Gwyn dabei helfen konnte, die geflügelten Magiewesen zu retten, hatte er wenigstens eine Möglichkeit eröffnet, um den Zhaki vor seinem finalen Ausbruch zu bewahren. Ob die natürliche Magie der Feen der des Feuers trotzen konnte, stand auf einem anderen Blatt geschrieben. Es gab keine Quantifizierbarkeit für diese rohen Naturkräfte, dahingehend waren die klassischen Künste wesentlich einfacher zu durchschauen.
Machairi mied die vollsten Straßen, doch in einem Bienenstock, der langsam seine Kapazitätsgrenzen erreicht hatte, konnte selbst ein Schatten sich nicht bewegen, ohne vereinzelten Menschen zu begegnen, besonders, wenn er nicht ganz er selbst war. Immer und immer wieder musste er hinderliche Erinnerungen fortdrücken. Der kleine Junge, der seine kleine Schwester schützend im Arm hielt, erinnerte ihn schmerzhaft an Ila. Das Harethimädchen, das sonst in einem der Freudenhäuser arbeitete, die ihren Schlafraum nun anderweitig vermieteten, weckte trotz geringer Ähnlichkeit die Erinnerung an Leén. Selbst die Straßenecke, an der er den Dieb abgefangen hatte, der einer schlafenden Göttertochter ihre Tasche gestohlen hatte, drängte schmerzvolle Gedanken in seinen Kopf. Er vermisste sie. Beide. Und trotzdem konnte er die Angst vor einem Wiedersehen am schlimmsten aller Orte nicht ignorieren.
Seine eigenen Gedanken wollten ihn verrückt machen, entglitten ihm wie schon seit Jahren nicht mehr und die Dunkelheit in seiner Brust fraß so schmerzhaft an ihm, dass kein Messertanz dieser Welt in beruhigen konnte. Er musste etwas Positives tun und er wollte die Dinge mit Gwyn ohnehin nicht so belassen. Noch vor wenigen Tagen hätte er sich niemals dazu hinreißen lassen, auch nur seinen Namen zu offenbaren, doch die Dinge hatten sich geändert. Machairi lag in Trümmern und so sehr Kylon auch versuchte, die schützende Hülle wiederaufzubauen, war er doch verlorener, als er sich selbst eingestand. Die Mauern waren eingerissen, nun konnte er auch an ihnen vorbeischreiten und wenigstens eine Sache geradrücken, bevor er es nicht mehr konnte. So schlug er tatsächlich den Weg hinauf in die Stadt ein. Wohin war nur seine Selbstkontrolle verschwunden?
Es fiel niemandem so leicht, in den Palast einzubrechen wie Machairi. Zahllose Erkundungen in frühen Kindertagen und das starke Erbe seines Vaters hatten auch einem kleinen Kind die Möglichkeit gegeben, jeden Winkel des altehrwürdigen Baus kennenzulernen. Jahrzehnte später hatte sich am Grundriss wenig geändert, nur das Schwarmwissen der Bewohner hatte – wie so oft – einige Details verschluckt. So kam und ging der Messerdämon, wie es ihm beliebte, bediente sich an der königlichen Schatzkammer und brachte hinein und hinaus, wen und was er wollte, ohne je bemerkt zu werden. Heute war es dennoch ein dummes Risiko. So dumm, dass er Gwyn für die gleiche Entscheidung mit neuem Ärger gestraft hätte. Es hatte schließlich seinen Grund, dass er sein Anliegen nicht persönlich zu dem anderen Prinzen gebracht hatte. Doch wenigstens war Machairi – anders als Gwyn – in der Lage, die Risken zu erkennen, einzuschätzen und nach Möglichkeit zu umgehen.
Gwyn war besorgniserregend einfach zu finden. Es war, als schreie er seine Anwesenheit über die Flure. Das aufgebrachte Feuer zog deutliche Spuren und es war unglaublich, dass es niemand zu bemerken schien. Es konnte ein echter Segen sein, dass die Cecilian blind für die Dinge waren, die sie am meisten hassten. Besonders im Palast, in dem sich mehr Magie als Staub fand, hätte selbst ein ungeübtes, nichtmagisches Auge die feinen Spuren sehen können. Doch Gewohnheit und Ignoranz verbargen die kleinen Geheimnisse des Königssitzes vor jenen, die auf seinen Fluren wandelten.
Der Zhaki hatte keine Planung und keine Idee, wie er weiter vorgehen sollte. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen, ging in einem leeren Flur immer wieder ein paar Schritte auf und ab und redete nur scheinbar mit sich selbst, während er der kleinen Fee lauschte, deren hohes Stimmchen sich zwischen den Wänden verlor. Nur ein leichtes Glitzern in der Luft zeugte von ihrer Anwesenheit und Kylon lehnte sich in den Schatten einer Wand und beobachtete den Gaukler einen Augenblick. Wenn er allein war, war Gwyn fast wieder er selbst. Er hatte vieles von dem Kind zurückgelassen, dem Jungen, der aus der Sklaverei entflohen war und dem die Flucht auf einen sicheren Kontinent zu langweilig gewesen war. Hätte seine Magie ihn nicht langsam verschlungen, hätte Gwyn sich auf einem guten Wege befunden, um endlich mit dem nötigen Realismus sein Potenzial zu entfalten. So war er wieder zu beschäftigt damit, sich zu fürchten, zu unsicher, um sich zu behaupten, und obwohl er aus seinen Fehlern gelernt hatte, stand er sich selbst im Weg. Scheinbar hatte er noch immer nicht gelernt, strukturierte Lösungen zu finden und die Situation zu beachten. Er stand auf einem offensichtlich viel genutzten Flur, so deutlich wie die Gebrauchsspuren trotz penibler Reinigung waren, und redete mit Feen, ohne den Hauch einer Strategie. Wäre es nicht so gefährlich gewesen, ihn zu erschrecken, hätte er sich einfach irgendwann eingemischt. So machte Machairi absichtlich einige leisere Geräusche, bevor er sich bemerkbar machte.
„Ihr hättet euch vorher absprechen sollen.“ Stetig darauf lauschend, dass sich niemand näherte, löste sich der Schatten von der Wand und beobachtete den Feuerspucker dabei, wie er trotzdem zusammenfuhr und einen Satz zur Seite machte. Sein Unterbewusstsein war jedoch vorbereitet genug, dass es bei einem verräterischen Glimmen unter der harethschen Dienstuniform blieb.
Erschrocken starrte Gwyn ihn an und ein Augenblick der stummen Verständnislosigkeit verstrich, bevor der Feuerspucker den Kopf senkte und angespannt nach Worten suchte. Seine Unterwürfigkeit war unangenehm und ein weiteres deutliches Zeichen dafür, dass der Feuerspucker seine Ängste nicht ausreichend voneinander unterscheiden würde. Eigentlich musste er längst verstanden haben, dass es einen Unterschied zwischen Folgsamkeit und Unterwürfigkeit gab. „Zedian wird es tun“, berichtete der Zhaki schließlich dem polierten Marmorboden und die Sorge klang so deutlich aus seiner Stimme, dass er sich offenbar nicht einmal Mühe gab, es zu verbergen. Überraschenderweise spürte auch Kylon, dass sich etwas in ihm leicht zusammenzog bei der Nachricht, als hätte ein kleiner, letzter Funken Überlebenswille sich noch an die Hoffnung geklammert, dass der Harethiprinz nicht zu überzeugen sein würde. „Er will den Erben des Throns bei Sonnenuntergang zu einem Duell im Tempel auffordern“, fügte Gwyn murmelnd hinzu, noch immer angestrengt den Boden betrachtend. Wäre eine Ohrfeige doch nur nicht so kontraproduktiv gewesen.
Machairi warf einen Blick zu den spitzen Fenstern. Die Sonne war hinter dunklen Wolken verborgen. Viel Zeit blieb ihnen nicht. „Gut.“ Irgendwo in der Ferne ließ jemand ein bestücktes Tablett fallen und das Scheppern hallte durch endlose Flure, bis nur noch ein leises Klingeln bei ihm ankam. Es wog schwer, als lausche er dem Zerschellen des letzten Auswegs, den diese schwerwiegenden Nachrichten verstellten. „Was ist mit den Feen?“ Gwyn zog den Kopf noch etwas weiter ein und machte es noch unangenehmer. „Lass das“, knurrte Machairi, bevor er sich davon abhalten konnte.
Gehorsam hob der Feuerspucker den Kopf wieder ein wenig, doch wich dem Blick des Schattens weiter aus. Die Angst auf dem Gesicht des Gauklers war trotzdem nicht zu übersehen und nicht wirklich besser. „Kendra hat von einer privaten Trophäensammlung des verstorbenen Königs gesprochen. Vielleicht sind sie dort. Aber der Schlüssel ist noch an der Leiche und ich weiß nicht, wo und wie …“ Das Murmeln verschwamm immer mehr zur Unhörbarkeit, bis Gwyn verstummte.
Machairi nickte einmal und setzte sich in Bewegung. Sie hatten nicht viel Zeit und er würde nicht zu spät zu seinem Tod kommen. Gwyn folgte ihm hastig, umgeben von Glitzerstaub, der auf dem Boden kleine glänzende Körner hinterließ. Es war spürbar, dass er seine Fragen verschluckte, dass er sich nicht traute, seine Zweifel auszusprechen, und dass er nicht wusste, was er noch sagen wollte.
Sie mussten einigen Menschen ausweichen. Die Belegschaft des Schlosses war noch immer in Aufruhr und die Vorbereitung für die Beerdigung und die noch nicht abgesagte Hochzeit veranlassten viel zu viele Diener zu hektischen Wegen durch das ganze Schloss. Machairi lauschte den Schritten der beiden Personen, die einen Tisch oder ein Podium über einen benachbarten Flur schleppten, den hektischen Schritten eines kleinen Laufburschen, der kaum älter sein konnte als zehn, wenn er nicht ungewöhnlich kleinwüchsig war, und dem Rauschen eines Besens auf dem Marmorboden. Sie vermieden den Kontakt zu allen, wichen den Arbeitenden aus und erreichten schließlich nach zahlreichen Umwegen die Tür zu den königlichen Gemächern.
Leise stahlen sie sich hinein und Gwyn war kurz fassungslos über den maßlosen Reichtum in den ausladenden Räumlichkeiten. Thredian hatte seine persönlichen Räume ebenso geschmacklos eingerichtet wie seine Politik und Kylon gefror für einen Augenblick in der Tür, als auch hier Erinnerungen wohnten. Dort, auf dem Boden vor dem erkalteten Kamin, hatte König Karemis seinem Sohn das Schreiben beigebracht, ihm vorgelesen und die wenigen ruhigen Familienmomente genossen, während Ákarda ihnen zusah, eine Hand auf der Bauchdecke, unter der eine kleine Prinzessin heranwuchs. Der gleiche Kamin, über dem nun das Bild seines Stiefbruders prangte, eines falschen Königs, der einen jungen Vater, seinen Bruder, prozesslos auf dem Hof enthauptet hatte. Kylon hatte Àkardas Rachelust nie geteilt, doch in diesem Moment wollte er nur das Bild von der Wand reißen und es in tausend Stücke hacken. Jedes Kleinod, das die Verräterkönige hier platziert hatten, als hätten sie irgendeine Berechtigung, sich in diesem Räumen breit zu machen, wollte er zerschlagen und im kalten Kamin verbrennen.
„Brauchen wir nicht …“ Gwyn warf ihm einen vorsichtigen Blick zu und verstummte. Der Feuerspucker sah den Schatten von der Seite an und zögerte. Er zögerte, weil er hin und her gerissen war zwischen dem, was er tun wollte, und dem, was er für angebracht hielt. Er zögerte, weil die Angst vor Machairi gegen die Angst um Machairi rang. Er zögerte, weil er noch nie so tief hinter die Fassade geblickt hatte wie in diesem Moment. „Ist … ist alles in Ordnung?“, fragte er schließlich leise und zum ersten Mal, seit sie sich kannten, war nicht Gwyn hilflos überwältigt und wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Machairi schluckte. Er schluckte und versuchte, den Kloß loszuwerden, der ihm die Luft abschnürte, seit er den Raum betreten hatte. „Willst … du davon erzählen …? Oder soll ich den Rand halten?“
Er wollte erzählen. Er wollte berichten, was er nie zuvor ausgesprochen hatte, und er wollte, dass die hilflose Wut verschwand, die nichts besser machte. Er wollte zurück zum letzten Mal, da er in diesem Raum gewesen war, und er wollte ein zweites Mal die Wahl haben, im rechten Moment die Flucht zu ergreifen. Stattdessen stand er hier, auf das geworfen, was unumstößlich Realität war, und fühlte sich alt, müde und schrecklich hilflos. Es gab nichts, was Gwyn dagegen tun, darüber sagen konnte. Trotzdem wollte Kylon erzählen.
Doch Kylon war schon seit Jahrzehnten kaum mehr als eine Erinnerung und Machairi sprach nicht über Gefühle. Es wurde Zeit zu sterben, die Sonne drohte bereits, es ihm vorzumachen. „Hol die Feen, damit wir in den Tempel gehen können“, brachte er hervor. Seine Stimme kratzte im Hals und verbarg die Geister der Vergangenheit nicht. Stocksteif ging Machairi ein paar Schritte durch den Raum und riss einen Teppich von der Wand, um die Tresorwand zu offenbaren. Das Schlüsselloch glänzte in den letzten roten Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Wolken und die Fenster bis auf diesen Punkt gesucht hatten, nur um ihn zu verspotten.
Gwyn trat zu ihm. Immer wieder spürte er den Blick des Feuerspuckers und bemerkte die Sorge darin. „Wir haben keinen Schlüssel“, bemerkte der Zhaki schließlich leise, als traue er sich nicht, über die gegenwärtige Aufgabe zu sprechen, weil er merkte, dass sein Anführer in der Vergangenheit festhing, die ihn hinabsog wie Treibsand, je länger er in diesem Zimmer stand.
Seufzend schob Kylon die zitternden Finger in die Tasche und zog die Taschenuhr heraus, die ihm einmal mehr verriet, dass die Zeit ihn zu überrollen drohte. Ungewöhnlich ungeschickt zog er einen kleinen Schlüssel aus dem Uhrengehäuse und reichte ihn an seinen Feuerspucker weiter. „Sie werden das Schloss nicht ausgetauscht haben“, sagte er, weil er etwas sagen musste, um nicht den Verstand zu verlieren. Die weiß-blauen Vorhänge vor dem Fenster blähten sich leicht in dem Windhauch, der durch das angelehnte Fenster drang, während Gwyn betreten den Schlüssel annahm und das Schloss andächtig öffnete.
Ohnmächtige Feen lagen auf dem Käfigboden und zwei feingliedrige Gestalten stürzten aus Gwyns Gewändern darauf zu. Ein dickes Buch, eine goldene Figur und eine hölzerne Box umgaben das kleine Gefängnis. Er beobachtete Gwyn dabei, wie er vorsichtig den Käfig hob, für einen kurzen Augenblick die restlichen Gegenstände betrachtete, bevor er die Tür wieder schloss und den Schlüssel zurückgab. „Gehen wir?“, erkundigte er sich und klammerte sich an den Feenkäfig wie an einen Schutzschild.
Kylon drehte sich zum Gehen. Jeder Winkel dieses Zimmers erschlug ihn mit Kindheitserinnerungen. Es gab keinen rationalen Grund, keine gute Erklärung, warum ausgerechnet dieses Zimmer so schwer wog, zumindest sah er ihn nicht. Doch hätte er sich seinen Impulsen zu sehr hingegeben, hätte er keine Haftung dafür übernehmen können, was er getan hätte. Stattdessen war es taub und stumm in seiner Brust, während er steif und angespannte den Raum wieder verließ. Gwyn zog die Tür zu und das Klicken des Schlosses machte den Eindruck des Raumes ertragbar.
Weniger steif setzte sich Kylon in Bewegung. „Besser?“, fragte Gwyn vorsichtig und wagte es immerhin, ihn forschend von der Seite zu mustern.
„Wenn sie aufwachen, sollen sie eine Lösung für dich finden.“ Die freien Feen umschwirrten den Käfig noch immer in heller Aufruhr und versuchten, ihre Schwestern zu wecken.
Gwyn nickte und sie verließen das Schloss. Schweigen herrschte und als sei die Welt plötzlich etwas stiller, begegneten sie niemandem auf ihrem Weg ins Freie. Was immer dort im königlichen Schlafgemach geschehen war, hatte etwas verändert. Die Benommenheit wich erst langsam aus Kylons Gedanken und ein neues Gefühl mischte sich in die andauernde Trauer. Ob Gwyn es erkannte, konnte er nicht sagen. Er wusste nur dass es ihm unmöglich war, darüber zu sprechen, egal wie sehr er es wollte. Erst als die Spitzen des Tempels vor ihnen aufragten, traute sich Gwyn, das Schweigen zu brechen. „Ich will dir nicht beim Sterben zusehen“, sagte der Feuerspucker leise und es tat unumstößlich weh.
Ich auch nicht, wollte Kylon sagen. Stattdessen öffnete Machairi die Tempelpforte.
Sein Weg führte ihn hinab in die alten Kerker. Es war kühl ohne den Mantel und er fühlte sich ungewohnt verletzbar in der feuchten Kälte, während er an leeren und vermoderten Zellen vorbeischritt. In längst vergessenen Zeiten war der Bienenstock eine Gefängnisinsel gewesen, bevor sein Großvater ein neues und besseres Gefängnis hatte bauen lassen, das nicht direkt vor der Stadt lag. Menschen, die um jeden Preis eine Bleibe suchten, hatten ihre Häuser über den Gefängnishallen gebaut. Lange hatte sich niemand hinabgewagt, abgeschreckt von vollkommen haltlosen Geistergeschichten, und nach und nach waren die Gefängnisse in Vergessenheit geraten und zu einer reinen Gruselgeschichte geworden. Spätestens seit der Usurpator den Bienenstock zur einzigen Zuflucht für Arme und Glücklose gemacht hatte, waren die ehemaligen Gefängnistunnel leer. Doch Kylon war ein neugieriges Kind gewesen, hatte schon als Kleinkind immer wieder Gelegenheiten gefunden, sich davonzustehlen, und das Schloss erkundet. Ein einziges Mal hatte sein Vater ihm den heutigen Bienenstock gezeigt. Es hatte keine Palisade gegeben, keine lauten Spielhallen, keine Freudenhäuser und keine Flut von schiefen Hütten, nur ein paar Zelte und ein gewaltiges Netz aus Gängen und Zellen. Bei seiner Rückkehr hatte er kaum glauben können, wie viel sich in mehr als achtzig Jahren verändert hatte, und es hatte eine Weile gedauert, bis er sich in dieser Welt zurechtgefunden hatte. Hierher war er geflüchtet und hier hatte er die letzten Jahre verbracht, doch erst heute wurde ihm klar, dass diese Katakomben Ebos‘ Reich nicht zu unähnlich waren. Gedankenverloren strich ein weißer Handschuh über feuchten Stein und dann riss Machairi sich in die Gegenwart zurück. Kaum zu glauben, dass er tatsächlich noch sentimental werden konnte.
Es wurde nicht besser, als er die Tür zu der einzig belegten Zelle in diesem tiefsten Teil des Gefängnisses öffnete. Für einen kurzen Augenblick glaubte er wieder, Leéns stockenden Atem zu hören und ihr Licht schwinden zu fühlen. Außerdem fühlte er sich unwohl in der Nähe des ehemaligen Gottes. Trotzdem war es die letzte Gelegenheit für ein Gespräch mit dem einzigen Gott, der Teil der Kämpfe werden würde – ob er es wollte oder nicht. Es wäre töricht gewesen, diese Möglichkeit nicht zu nutzen, auch wenn er nicht darauf brannte. Doch die Zelle war leer. Machairi unterdrückte ein Schmunzeln. Er hatte nicht abgeschlossen, als er Leén fortgebracht hatte. Es war ihm gleichgültig gewesen, was der Gott tat, nachdem er das Leben seiner Tochter für kurze Zeit verlängert hatte. Nachdem er zuvor keine Anstalten gemacht hatte, sich auch nur über die Lage zu beschweren, hatte der Schatten jedoch nicht angenommen, dass der Gott gehen wollte. Es sollte doch niemand sagen, dass man ihn nicht überraschen konnte.
Machairi hatte mehrere Theorien, wohin es den Gott verschlagen hatte, doch er hatte nicht das Bedürfnis, sie zu überprüfen. Die erste Möglichkeit war sein eigenes Arbeitszimmer und auch wenn ihn seine eigene Schwäche in den Wahnsinn trieb, konnte er nicht dahin zurückgehen. Nicht so lange sie dort war. Allein die Erinnerung an ihren reglosen Körper in seinem Bett drohte ihn in die Knie zu zwingen und ein paar Stunden würde er noch durchhalten müssen. Die Aussicht, Leén ausgerechnet in der Unterwelt wiederzusehen, war ebenso schön wie schrecklich. Es war geradezu absurd. Er sehnte sich danach, sie wiederzusehen, nur um ihr dann dabei zu helfen, ihn für immer zurückzulassen, ebenso wie Ila. Ihm stand eine einsame Ewigkeit bevor und trotzdem sollte keine der beiden Frauen mehr Zeit als nötig in Ebos‘ dunklen Hallen verbringen.
Die dunklen Augen glitten über das unordentliche Bett, auf dem noch Spuren von Leéns Blut zu sehen waren, und über die geöffnete Gittertür. Der Gott hatte hier Magie gewirkt. Sie klebte in der Luft, waberte wie goldener Glitzerstaub um ihn herum und obwohl von den Kräften des ehemaligen Gottes fast ebenso wenig übrig war wie von seinen Eigenen, war die Präsenz stark. Jico war noch nicht lange fort und hatte viele unterschiedliche Zauber versucht. So viele, dass beim besten Willen nicht mehr zu bestimmen war, welche es gewesen waren, so sehr vermischten sich die Magiespuren miteinander und zeichneten ein Gewirr in den Raum, das nicht zu ordnen war. Vermutlich war genau das die Absicht gewesen und Kylon hatte nicht die Energie, sich weiter damit auseinanderzusetzen. Was immer der Gott nun tat, war nicht hier in die Luft geschrieben und Machairi hatte kein Interesse daran, ihn zu suchen. Wenn Jico sich selbst eine bedeutende Rolle zusprach, würde er früh genug wiederauftauchen und wenn nicht, mussten sie sich wenigstens mit einem Gott weniger auseinandersetzten. Denn je mehr übermenschliche Kräfte im Spiel waren, desto schlechter waren die Situationen zu kalkulieren und Machairi konnte darauf verzichten, dass ihm noch ein Gott ins Handwerk pfuschte. Es war schon schlimm genug, dass er sich dauerhaft Ebos‘ Einfluss widersetzen musste, der mit jeder vergehenden Sekunde etwas aufdringlicher zu werden schien und ihn hoch zum Palast zwingen wollte. Als hätte er noch irgendein Recht gehabt, dieses Erbe anzutreten, selbst wenn er es gewollt hätte. Niemand würde glauben, dass er war, wer er vorgab zu sein, und selbst wenn war so viel schwarze Magie im Spiel gewesen, dass man selbst den weniger abergläubigen Cecilian kaum einen Vorwurf hätte machen können, wenn sie ihm nicht vertrauten. Sein Anspruch war in der Nacht verflossen, in der er etwas zu langsam gestorben war.
Weil er sich nicht länger dem göttlichen Glanz und dem Anblick von Leéns Blut auf dem Laken aussetzen wollte, drehte der Messerdämon sich ab und verließ die Katakomben wieder, das Ziehen in der Brust und auf der Haut ignorierend. Die Wunde, die die Krallen des jungen Drachen hinterlassen hatte, brannte und die Trauer hing bleiern an jedem seiner Schritte. Wenn er nur halb so taub und abwesend war, wie er sich fühlte, würde Zedian keine magische Waffe brauchen, um ihn zu überwältigen. Gwyn und Mico hatten es gesehen, aber keiner von ihnen hatte wirklich begriffen, wie sehr der Schatten auseinanderfiel. Obwohl die beiden jungen Männer vermutlich die letzten Menschen in der sterblichen Welt waren, die ihn gut genug kannten, um ihn einzuschätzen, taten sie sich noch immer schwer, an der Fassade vorbeizuschauen, die in den letzten Jahren selten gewackelt hatte und die er jetzt nur noch dürftig aufrechterhielt. Kylon war nur froh, dass er nichts mehr von Merifas brauchte. Eine weitere Begegnung mit dem Paktierer hätte ihm mehr abverlangt, als er leisten konnte.
Mit Kopfschmerzen verließ Machairi die Katakomben, wich den größten Flüchtlingslagern aus und stieg auf die Palisade des Bienenstocks, um auf das Meer hinauszublicken. Es regnete schon wieder. Lange dünne Regenfäden tropften ins Meer und auf ihn hinab. Sie verschleierten die Irreninsel, als wollten sie Vica Schutz bieten, während sie ihre letzten Vorbereitungen traf. Er hätte sie töten sollen, als sie versucht hatte, Zedian gegen ihn auszuspielen. Dieser Fehler würde viele Leben fordern, denn die Blinde wollte Blut sehen und er hatte zu wenig Zeit, zu wenig Kraft und zu wenig Gelegenheit, um diese Fehlentscheidung zu korrigieren. Kylon würde vor seinem Tod keine Drachen mehr bekämpfen und seine Glieder waren so schwer, dass er Vica eine realistische Chance hätte einräumen müssen.
Warum hatte sie nicht einmal ruhiger sein können? Hätte sie einen Augenblick innegehalten, um nachzudenken, anstatt sich von ihrer hilflosen Wut instrumentalisieren zu lassen, hätte sie vielleicht gesehen, was sie tat. Kylon fragte sich, ob es einen Moment gegeben hatte, da er noch etwas hätte ändern können. Vielleicht hätte er Gwyn zu ihr schicken sollen, um sie zu beruhigen. Niemand konnte Gwyn lange böse sein. Auch er nicht. Der Feuerspucker war wahrlich bemerkenswert gutherzig. Hätte seine bedingungslose Hilfsbereitschaft nicht viel zu oft im entscheidenden Moment mehr Probleme gebracht als gelöst, wäre er zu beneiden gewesen. Umso beachtenswerter, dass er es trotzdem immer wieder tat. Selbst jetzt wollte er Feen retten, während sie wahrlich andere Probleme zu bewältigen hatten. Ein riskantes Unterfangen. Wenn er nicht bald zurückkam, würde er ihn suchen gehen müssen. Machairi hatte die Hilfsaktion nur aus zwei Gründen gestattet. Erstens würde er nicht mehr die Zeit haben, um eine Lösung für Gwyns feuriges Problem zu finden, und Machairi hoffte, dass die Feen das an seiner statt tun würden. Und zweitens war die Unterwürfigkeit des Zhakis nervenaufreibend und schwer zu ertragen. Zwar fand der Feuerspucker langsam zu sich selbst zurück, aber bisher hatte er nicht verstanden, was das richtige Maß an Folgsamkeit war.
Machairi strich sich die regennassen Strähnen aus dem Gesicht und seufzte. Vielleicht machten ihn seine letzten Stunden doch sentimentaler, als gut war. Er konnte schließlich nicht ewig auf der Palisade stehen und den Wellen beim Rauschen zusehen. Stattdessen sollte er seine letzten Stunden sinnvoll nutzen. Es gab noch viel zu tun. Selbst wenn er es schaffte, Ebos Karemis‘ Erbe vorzuenthalten, stand Kefa dennoch der Angriff einer rachsüchtigen Drachenbesitzerin und all jener Kreaturen bevor, die Ebos bereits in die sterbliche Welt gebracht hatte und die sicher gerade in diesem Moment auf den rechten Moment lauerten. Also riss er sich von den ineinander schlagenden Wellen los und suchte sich einen verdeckten Weg durch die Stadt.
Er hatte Vica zu viel beigebracht. Es war ein kluger Schachzug, den Fürsten zu töten, wenn man den Bienenstock verwundbar machen wollte. Auch Evima einzusetzen war klug, auch wenn das vielleicht eher Ebos‘ Betreiben zu verdanken war. Der Bienenstock zerfiel ebenso wie der Messerdämon und wenn nicht beiden der Tod bevorstehen sollte, musste etwas geschehen.
Gina zu finden, war nicht schwierig. Die Faust verdiente die Bezeichnung eines Schattens im Grunde nicht. Sie war nicht interessiert an Verborgenheit oder Stille. Sie wollte für ihre Taten gefeiert werden, bahnte sich ihren Weg in der Welt mit der größtmöglichen Bühne und ließ nie eine Gelegenheit aus, sich zu präsentieren. Die Gespräche folgten jedem ihrer Schritte und sie suhlte sich für gewöhnlich in der Aufmerksamkeit und der ehrfürchtigen Bewunderung, die ihr der Handschuh einbrachte. Man brauchte nichts zu tun als zuzuhören. Wenn die Bienen hinter vorgehaltener Hand summten, dann waren Ginas Bewegungen leicht nachzuverfolgen.
Selten war er, seit er wieder aufgewacht war, so benommen gewesen wie jetzt. So bemerkte er den jungen Mann erheblich später als sonst und es hätte nicht viel gefehlt, um auf den spontanen Hinterhalt hereinzufallen. Es war mehr ein Reflex als eine Entscheidung, dem Angreifer mit einem Ducken auszuweichen und ihm die Waffenhand zu verdrehen. Ein schlechtes Schwert, das mal einem Gardisten gehört haben musste, klapperte auf den nassen Stein der Straße und sein Besitzer folgte. Messer hielten seine Ärmel am Boden und eine weiter Klinge rutschte in den weißen Handschuh. Doch Kylon hielt inne, bevor er diesen Mann ernsthaft verletzte. Die Kleidungsstücke, die die blanken Klingen durchstochen hatten, waren so verblichen und löchrig, dass ein paar Löcher mehr oder weniger gar nicht auffallen würden. Der Junge war etwa sechzehn und er hatte eine Familie, die er selbst als wehr- und hilflos ansah, obwohl es mindestens bis vor kurzem einen anderen Ernährer gegeben hatte. Er hatte seine Ängste gegeneinander abgewogen und offenbar beschlossen, dass einen Schatten anzugreifen weniger schlimm war, als dieser Familie beim Verhungern zuzusehen. Nun überdachte er diese Entscheidung.
„Es tut mir leid“, brachte er mit zittriger Stimme hervor und versuchte nicht mal, sich von den Messern zu befreien. Er wollte noch mehr sagen, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken.
Machairi verkniff sich das Augenrollen nicht. Musste dem am Boden Liegenden nicht klar sein, dass er mit dem Schreck davonkommen würde, wenn er sich nicht vollkommen dumm benahm? Kylon wollte in seinem Leben niemanden mehr töten und wenn er es gewollt hätte, wäre es längst zu spät gewesen. „Thredian ist tot. Eine Auszahlung seines lächerlichen Kopfgelds sollte auch dem letzten Idioten unwahrscheinlich vorkommen.“ Machairi beobachtete das Schaudern, das der Klang seiner Stimme hervorrief und das hektische Nicken einen Augenblick später. „Aufstehen.“
Der junge Angreifer zerrte einmal erfolglos an seinen Ärmeln, bevor der Stoff nachgab. Es war nicht schwer, ihm die Überraschung anzusehen, als er richtig Kraft aufwenden musste, um die Klingen aus der Straße zu ziehen, und als er sie in der Hand hielt, betrachtete er sie von allen Seiten. Ja, er würde die Waffen vermissen. Machairi wusste nicht, was mit den Messern geschehen würde, wenn er starb. Er würde sie wohl kaum mit in die Unterwelt nehmen können, auch wenn es beim letzten Mal ein nicht auszugleichender Vorteil gewesen war, sie bei sich zu haben. Der Angreifer rappelte sich auf und wagte einen kurzen Blick. Dieser Junge war kein Kind des Bienenstocks. Er musste einer der Flüchtlinge sein und das Schwert würde von einem der Deserteure stammen. So wenig wie er damit umgehen konnte und wie er selbst die filigraneren Waffen hielt, war er offenbar nicht bewandert damit. Seine fehlende Kompetenz hielt ihn allerdings nicht davon ab, sich zu überschätzen. „Braucht Ihr vielleicht noch jemanden?“, fragte er vorsichtig, sobald er den ersten Schreck so weit überwunden hatte, dass er seine Stimme wieder benutzen konnte. Wortlos hielt Machairi die schwarze Hand auf. Behutsam legte der Flüchtling die Messer auf den schwarzen Stoff. „Ich kann arbeiten“, fuhr er fort, als er keine Antwort erhielt.
Normalerweise hatte der Schatten keine Verwendung für Bauernkinder ohne Potenzial oder Fähigkeiten, ganz sicher nicht für solche, die sich nicht einmal bemühten, seinem Blick standzuhalten. Es war immer wieder wirkungsvoll und geradezu faszinierend, wie sehr sich die Menschen unter Schweigen wanden und wie viel bedeutungsvoller Worte wurden, wenn man sparsam mit ihnen umging. Doch heute konnte er sogar stümperhafte Hilfe gebrauchen. „Bring möglichst viele Menschen möglichst weit fort von hier.“ Kurz tastete er ein paar Drawken, damit der Kerl es sich leisten konnte, andere dazu zu bringen, die Hauptstadt zu verlassen, anstatt sich erneut auf die Lauer zu legen, doch er hatte seinen Geldbeutel dem geschädigten Fischer gegeben und alles, was noch im Mantel gesteckt hatte, war in den Klauen eines Drachen geblieben.
„Aber wir sind doch gerade erst …“
„Nur wer kämpfen kann, bleibt.“ Er würde diesen spontanen Auftrag weder erklären noch rechtfertigen. Das Unverständnis seines Gegenübers war ihm egal. Machairi wandte sich ab und setzte seinen Weg fort. Er würde wohl nie mehr verstehen, warum niemand jemals mitdachte. Zu Anfang hatte er seine Leute tatsächlich für begriffsstutzig gehalten, doch es hatte sich über die Jahre gezeigt, dass die offensichtlichsten Dinge eine Herausforderung für die meisten Köpfe darstellten. So hatte er sich daran gewöhnt, Verwirrung zu hinterlassen, und auch dieses Mal war es nicht anders.
Gina war wie so oft kurz davor, sich in eine Schlägerei zu verwickeln, als er sie fand. Sie stand einem klobigen Rausschmeißer aus dem Möwennest gegenüber und fauchte ihn an. „Die alte Schachtel weiß überhaupt nicht, was sie tut. Du kannst gerne allein in der Unterwelt verrecken!“
Diese Worte hätten keinen Adrenalinschub auslösen dürfen. Sie hätten nicht den leisesten Hauch von Angst hervorrufen sollen und er hätte von sich erwartet, darüber hinwegsehen zu können. Trotzdem bemerkte Kylon, wie sich seine Schultern strafften und er einen Blick hinauf zur diesigen Stadt warf. Leider war davon auszugehen, dass auch auf Gina bereits ein leeres Haus wartete und dass sie sich ihren Platz in der Unterwelt längst verdient hatte, egal, ob sie nun Evima unterstützte oder nicht.
Der Blick der Rothaarigen fiel zu ihm, als er näher herantrat. Sie war erleichtert, ihn zu sehen, auch wenn sie es hinter Wut zu verstecken versuchte. „Du! Dann kannst du diesem Halbhirn direkt erklären, warum wir uns nicht auf Evimas Führung einlassen wollen und wie sich alles verändern wird, wenn er es dennoch tut!“ Sie wollte dem klobigen Kerl vor die Brust stoßen, aber Machairi blieb neben ihr stehen und hielt sie davon ab. „Was soll das! Der und seine Kumpels meinen, dass die alte Trulla uns beschützen will.“
„Kümmere dich nicht um jene, die sich nicht selbst helfen können, wenn der Bienenstock zum Schlachtfeld wird. Für alle Befürworter findet sich sicher ein Platz in den ersten Reihen.“ Gina war die Person, der er zutraute, viele Menschen in Sicherheit zu bringen, selbst wenn diese nicht verstanden, wieso. Es war lange her, dass Katastrophen im ähnlichen Ausmaß über Cecilia hereingebrochen waren. Es war wichtig, dass sie in jenem Augenblick, da Vica ihren ersten Schritt machte, so wenig Opfer wie möglich fordern würde.
„Ah ja, und wohin soll ich die kümmern?“ Gina zog die Stirn in Falten, warf noch einen bösen Blick auf den Rausschmeißer und zog den Handschuh zurecht. „Wir sind doch schon die letzte Zuflucht.“ Sie kehrte ihrem Streit den Rücken und machte einen Schritt von ihm weg. „Soll ich jetzt etwa die Probleme lösen, für die selbst du keine Antwort hast?“
Ja, in etwa. „Ich kann nicht überall sein, Gina. Bevor du deine Zeit mit Evimas Anhängern verschwendest, kannst du etwas Sinnvolles tun.“ Es würde genügend Bienen geben, die lieber auf die neue Bienenkönigin hören würden als auf die Schatten, aber jeder einzelne, der sich ein Stück weiter rettete, selbst wenn es nur hinauf in die Stadt war, war ein Triumph weniger auf Ebos‘ Seite, zumindest für den Augenblick.
„Wenn wir wirklich von Dämonen und Göttern angegriffen werden, ist ohnehin alles in Trümmern. Was sollte mich davon abhalten, alles zu machen, was ich will? Der Bienenstock ist so gut wie tot.“
„Du sollst die Bienen beschützen, nicht den Bienenstock.“
Sie wollte nach ihm schlagen. Wie immer ärgerte sie sich darüber, dass er ihr vorschrieb, was sie tun sollte, und wie immer würde sie es zähneknirschend dennoch tun, schon allein, damit sie sich ausführlich darüber beschweren konnte. „Verstehe. Und was machst du in der Zeit Sinnvolles?“
Sterben. „Ebos aufhalten, so viel ich kann.“ Gina war lange Zeit die einzige Person gewesen, in der er wenigstens eine Art Freundin gesehen hatte. Sie war die erste verzweifelte Seele gewesen, die er im Bienenstock aufgesammelt hatte, und sie hatte sich als überaus lernfähig erwiesen. Mit ihr war das erste konstante Mitglied einer Gruppe gekommen, nur wenig später gefolgt von Vica. Machairi hatte sein Vertrauen stets sparsam vergeben, aber Gina hatte lange Zeit einiges davon genossen. Er hatte ihr trotzdem nicht gesagt, wer er war, und er würde das jetzt nicht nachholen. Die Reaktion von Gwyn und Mico hatte ihm gereicht, von Leén ganz zu schweigen. Der Gedanke an sie machte das Denken schwieriger. Nicht mehr lange.
Gina verschränkte die Arme vor der Brust. „Präzise wie immer“, sagte sie und verdrehte die Augen. „Hauptsache, du bist auffindbar, wenn der Mist richtig losgeht. Scheint ja nicht mehr lange zu dauern.“ Sie schüttelte die Locken zurück und beeilte sich, von ihm wegzukommen, damit sie das Gespräch beendete, bevor er einfach gehen konnte. Sie hatte gerne die Oberhand.
Der klobige Rausschmeißer, der nur feindselig zu ihnen hinübergeblickt hatte und nicht dumm genug war, sie in ihrem kurzen Gespräch zu unterbrechen, warf die Hände in die Luft, als die Faust ihn ignorierte. „He, was verziehst du dich jetzt einfach?! Wir haben da noch etwas zu klären“, stieß er hervor.
Die Faust hielt inne. Sie drehte sich zu dem Mann, ging kurzentschlossen auf ihn zu und schlug ihm kräftig die weiße Faust ins Gesicht. Blut quoll aus der schiefen Nase und die Knie des Mannes gaben nach, als es ihn völlig unerwartet traf. Amateur. „Danke. Das hätte ich fast vergessen“, log Gina in neutralem Tonfall und ging. Sie würde sich gut um die Bienen kümmern und sie brachte ihn zum Schmunzeln. Die Faust brauchte ihn nicht mehr.
Hätte das nur ausnahmslos für alle gegolten. Davon ausgehend, dass sie alle durch irgendein Wunder das Bevorstehende überstehen würden, hätte er sie lieber mit guten Aussichten verlassen. Dabei hätten die Dinge sehr viel schlechter stehen können. Mico würde sein Leben in den Griff bekommen, solange er es nicht versäumte, sich ordentlich um seinen Sohn zu kümmern, und Vica würde ihren Angriff, wenn sie Glück hatte, nicht überleben. Der Bienenstock würde zurechtkommen, wie er es immer getan hatte, und selbst die falsche Prinzessin hatte einen fähigen Sultanssohn, der ihr helfen würde, die Spuren von Ebos‘ Einfluss zu überwinden. Nur Gwyn hatte ein Problem, für das auch Machairi in der Kürze der verbleibenden Zeit keine Lösung finden würde. Er würde seiner eigenen feurigen Magie erliegen und es gab nichts, was sie tun konnten. Die einzige Möglichkeit sah der Schatten in den Feen und er konnte nur hoffen, dass der Feuerspucker die kleinen Wesen rechtzeitig befreien würde, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen.
Tatsächlich rang Kylon mit sich. Er hatte noch einige Dinge organisieren wollen, bevor das Ende kam, aber seine Schritte zogen ihn in Richtung des Palasts. Wenn er Gwyn dabei helfen konnte, die geflügelten Magiewesen zu retten, hatte er wenigstens eine Möglichkeit eröffnet, um den Zhaki vor seinem finalen Ausbruch zu bewahren. Ob die natürliche Magie der Feen der des Feuers trotzen konnte, stand auf einem anderen Blatt geschrieben. Es gab keine Quantifizierbarkeit für diese rohen Naturkräfte, dahingehend waren die klassischen Künste wesentlich einfacher zu durchschauen.
Machairi mied die vollsten Straßen, doch in einem Bienenstock, der langsam seine Kapazitätsgrenzen erreicht hatte, konnte selbst ein Schatten sich nicht bewegen, ohne vereinzelten Menschen zu begegnen, besonders, wenn er nicht ganz er selbst war. Immer und immer wieder musste er hinderliche Erinnerungen fortdrücken. Der kleine Junge, der seine kleine Schwester schützend im Arm hielt, erinnerte ihn schmerzhaft an Ila. Das Harethimädchen, das sonst in einem der Freudenhäuser arbeitete, die ihren Schlafraum nun anderweitig vermieteten, weckte trotz geringer Ähnlichkeit die Erinnerung an Leén. Selbst die Straßenecke, an der er den Dieb abgefangen hatte, der einer schlafenden Göttertochter ihre Tasche gestohlen hatte, drängte schmerzvolle Gedanken in seinen Kopf. Er vermisste sie. Beide. Und trotzdem konnte er die Angst vor einem Wiedersehen am schlimmsten aller Orte nicht ignorieren.
Seine eigenen Gedanken wollten ihn verrückt machen, entglitten ihm wie schon seit Jahren nicht mehr und die Dunkelheit in seiner Brust fraß so schmerzhaft an ihm, dass kein Messertanz dieser Welt in beruhigen konnte. Er musste etwas Positives tun und er wollte die Dinge mit Gwyn ohnehin nicht so belassen. Noch vor wenigen Tagen hätte er sich niemals dazu hinreißen lassen, auch nur seinen Namen zu offenbaren, doch die Dinge hatten sich geändert. Machairi lag in Trümmern und so sehr Kylon auch versuchte, die schützende Hülle wiederaufzubauen, war er doch verlorener, als er sich selbst eingestand. Die Mauern waren eingerissen, nun konnte er auch an ihnen vorbeischreiten und wenigstens eine Sache geradrücken, bevor er es nicht mehr konnte. So schlug er tatsächlich den Weg hinauf in die Stadt ein. Wohin war nur seine Selbstkontrolle verschwunden?
Es fiel niemandem so leicht, in den Palast einzubrechen wie Machairi. Zahllose Erkundungen in frühen Kindertagen und das starke Erbe seines Vaters hatten auch einem kleinen Kind die Möglichkeit gegeben, jeden Winkel des altehrwürdigen Baus kennenzulernen. Jahrzehnte später hatte sich am Grundriss wenig geändert, nur das Schwarmwissen der Bewohner hatte – wie so oft – einige Details verschluckt. So kam und ging der Messerdämon, wie es ihm beliebte, bediente sich an der königlichen Schatzkammer und brachte hinein und hinaus, wen und was er wollte, ohne je bemerkt zu werden. Heute war es dennoch ein dummes Risiko. So dumm, dass er Gwyn für die gleiche Entscheidung mit neuem Ärger gestraft hätte. Es hatte schließlich seinen Grund, dass er sein Anliegen nicht persönlich zu dem anderen Prinzen gebracht hatte. Doch wenigstens war Machairi – anders als Gwyn – in der Lage, die Risken zu erkennen, einzuschätzen und nach Möglichkeit zu umgehen.
Gwyn war besorgniserregend einfach zu finden. Es war, als schreie er seine Anwesenheit über die Flure. Das aufgebrachte Feuer zog deutliche Spuren und es war unglaublich, dass es niemand zu bemerken schien. Es konnte ein echter Segen sein, dass die Cecilian blind für die Dinge waren, die sie am meisten hassten. Besonders im Palast, in dem sich mehr Magie als Staub fand, hätte selbst ein ungeübtes, nichtmagisches Auge die feinen Spuren sehen können. Doch Gewohnheit und Ignoranz verbargen die kleinen Geheimnisse des Königssitzes vor jenen, die auf seinen Fluren wandelten.
Der Zhaki hatte keine Planung und keine Idee, wie er weiter vorgehen sollte. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen, ging in einem leeren Flur immer wieder ein paar Schritte auf und ab und redete nur scheinbar mit sich selbst, während er der kleinen Fee lauschte, deren hohes Stimmchen sich zwischen den Wänden verlor. Nur ein leichtes Glitzern in der Luft zeugte von ihrer Anwesenheit und Kylon lehnte sich in den Schatten einer Wand und beobachtete den Gaukler einen Augenblick. Wenn er allein war, war Gwyn fast wieder er selbst. Er hatte vieles von dem Kind zurückgelassen, dem Jungen, der aus der Sklaverei entflohen war und dem die Flucht auf einen sicheren Kontinent zu langweilig gewesen war. Hätte seine Magie ihn nicht langsam verschlungen, hätte Gwyn sich auf einem guten Wege befunden, um endlich mit dem nötigen Realismus sein Potenzial zu entfalten. So war er wieder zu beschäftigt damit, sich zu fürchten, zu unsicher, um sich zu behaupten, und obwohl er aus seinen Fehlern gelernt hatte, stand er sich selbst im Weg. Scheinbar hatte er noch immer nicht gelernt, strukturierte Lösungen zu finden und die Situation zu beachten. Er stand auf einem offensichtlich viel genutzten Flur, so deutlich wie die Gebrauchsspuren trotz penibler Reinigung waren, und redete mit Feen, ohne den Hauch einer Strategie. Wäre es nicht so gefährlich gewesen, ihn zu erschrecken, hätte er sich einfach irgendwann eingemischt. So machte Machairi absichtlich einige leisere Geräusche, bevor er sich bemerkbar machte.
„Ihr hättet euch vorher absprechen sollen.“ Stetig darauf lauschend, dass sich niemand näherte, löste sich der Schatten von der Wand und beobachtete den Feuerspucker dabei, wie er trotzdem zusammenfuhr und einen Satz zur Seite machte. Sein Unterbewusstsein war jedoch vorbereitet genug, dass es bei einem verräterischen Glimmen unter der harethschen Dienstuniform blieb.
Erschrocken starrte Gwyn ihn an und ein Augenblick der stummen Verständnislosigkeit verstrich, bevor der Feuerspucker den Kopf senkte und angespannt nach Worten suchte. Seine Unterwürfigkeit war unangenehm und ein weiteres deutliches Zeichen dafür, dass der Feuerspucker seine Ängste nicht ausreichend voneinander unterscheiden würde. Eigentlich musste er längst verstanden haben, dass es einen Unterschied zwischen Folgsamkeit und Unterwürfigkeit gab. „Zedian wird es tun“, berichtete der Zhaki schließlich dem polierten Marmorboden und die Sorge klang so deutlich aus seiner Stimme, dass er sich offenbar nicht einmal Mühe gab, es zu verbergen. Überraschenderweise spürte auch Kylon, dass sich etwas in ihm leicht zusammenzog bei der Nachricht, als hätte ein kleiner, letzter Funken Überlebenswille sich noch an die Hoffnung geklammert, dass der Harethiprinz nicht zu überzeugen sein würde. „Er will den Erben des Throns bei Sonnenuntergang zu einem Duell im Tempel auffordern“, fügte Gwyn murmelnd hinzu, noch immer angestrengt den Boden betrachtend. Wäre eine Ohrfeige doch nur nicht so kontraproduktiv gewesen.
Machairi warf einen Blick zu den spitzen Fenstern. Die Sonne war hinter dunklen Wolken verborgen. Viel Zeit blieb ihnen nicht. „Gut.“ Irgendwo in der Ferne ließ jemand ein bestücktes Tablett fallen und das Scheppern hallte durch endlose Flure, bis nur noch ein leises Klingeln bei ihm ankam. Es wog schwer, als lausche er dem Zerschellen des letzten Auswegs, den diese schwerwiegenden Nachrichten verstellten. „Was ist mit den Feen?“ Gwyn zog den Kopf noch etwas weiter ein und machte es noch unangenehmer. „Lass das“, knurrte Machairi, bevor er sich davon abhalten konnte.
Gehorsam hob der Feuerspucker den Kopf wieder ein wenig, doch wich dem Blick des Schattens weiter aus. Die Angst auf dem Gesicht des Gauklers war trotzdem nicht zu übersehen und nicht wirklich besser. „Kendra hat von einer privaten Trophäensammlung des verstorbenen Königs gesprochen. Vielleicht sind sie dort. Aber der Schlüssel ist noch an der Leiche und ich weiß nicht, wo und wie …“ Das Murmeln verschwamm immer mehr zur Unhörbarkeit, bis Gwyn verstummte.
Machairi nickte einmal und setzte sich in Bewegung. Sie hatten nicht viel Zeit und er würde nicht zu spät zu seinem Tod kommen. Gwyn folgte ihm hastig, umgeben von Glitzerstaub, der auf dem Boden kleine glänzende Körner hinterließ. Es war spürbar, dass er seine Fragen verschluckte, dass er sich nicht traute, seine Zweifel auszusprechen, und dass er nicht wusste, was er noch sagen wollte.
Sie mussten einigen Menschen ausweichen. Die Belegschaft des Schlosses war noch immer in Aufruhr und die Vorbereitung für die Beerdigung und die noch nicht abgesagte Hochzeit veranlassten viel zu viele Diener zu hektischen Wegen durch das ganze Schloss. Machairi lauschte den Schritten der beiden Personen, die einen Tisch oder ein Podium über einen benachbarten Flur schleppten, den hektischen Schritten eines kleinen Laufburschen, der kaum älter sein konnte als zehn, wenn er nicht ungewöhnlich kleinwüchsig war, und dem Rauschen eines Besens auf dem Marmorboden. Sie vermieden den Kontakt zu allen, wichen den Arbeitenden aus und erreichten schließlich nach zahlreichen Umwegen die Tür zu den königlichen Gemächern.
Leise stahlen sie sich hinein und Gwyn war kurz fassungslos über den maßlosen Reichtum in den ausladenden Räumlichkeiten. Thredian hatte seine persönlichen Räume ebenso geschmacklos eingerichtet wie seine Politik und Kylon gefror für einen Augenblick in der Tür, als auch hier Erinnerungen wohnten. Dort, auf dem Boden vor dem erkalteten Kamin, hatte König Karemis seinem Sohn das Schreiben beigebracht, ihm vorgelesen und die wenigen ruhigen Familienmomente genossen, während Ákarda ihnen zusah, eine Hand auf der Bauchdecke, unter der eine kleine Prinzessin heranwuchs. Der gleiche Kamin, über dem nun das Bild seines Stiefbruders prangte, eines falschen Königs, der einen jungen Vater, seinen Bruder, prozesslos auf dem Hof enthauptet hatte. Kylon hatte Àkardas Rachelust nie geteilt, doch in diesem Moment wollte er nur das Bild von der Wand reißen und es in tausend Stücke hacken. Jedes Kleinod, das die Verräterkönige hier platziert hatten, als hätten sie irgendeine Berechtigung, sich in diesem Räumen breit zu machen, wollte er zerschlagen und im kalten Kamin verbrennen.
„Brauchen wir nicht …“ Gwyn warf ihm einen vorsichtigen Blick zu und verstummte. Der Feuerspucker sah den Schatten von der Seite an und zögerte. Er zögerte, weil er hin und her gerissen war zwischen dem, was er tun wollte, und dem, was er für angebracht hielt. Er zögerte, weil die Angst vor Machairi gegen die Angst um Machairi rang. Er zögerte, weil er noch nie so tief hinter die Fassade geblickt hatte wie in diesem Moment. „Ist … ist alles in Ordnung?“, fragte er schließlich leise und zum ersten Mal, seit sie sich kannten, war nicht Gwyn hilflos überwältigt und wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Machairi schluckte. Er schluckte und versuchte, den Kloß loszuwerden, der ihm die Luft abschnürte, seit er den Raum betreten hatte. „Willst … du davon erzählen …? Oder soll ich den Rand halten?“
Er wollte erzählen. Er wollte berichten, was er nie zuvor ausgesprochen hatte, und er wollte, dass die hilflose Wut verschwand, die nichts besser machte. Er wollte zurück zum letzten Mal, da er in diesem Raum gewesen war, und er wollte ein zweites Mal die Wahl haben, im rechten Moment die Flucht zu ergreifen. Stattdessen stand er hier, auf das geworfen, was unumstößlich Realität war, und fühlte sich alt, müde und schrecklich hilflos. Es gab nichts, was Gwyn dagegen tun, darüber sagen konnte. Trotzdem wollte Kylon erzählen.
Doch Kylon war schon seit Jahrzehnten kaum mehr als eine Erinnerung und Machairi sprach nicht über Gefühle. Es wurde Zeit zu sterben, die Sonne drohte bereits, es ihm vorzumachen. „Hol die Feen, damit wir in den Tempel gehen können“, brachte er hervor. Seine Stimme kratzte im Hals und verbarg die Geister der Vergangenheit nicht. Stocksteif ging Machairi ein paar Schritte durch den Raum und riss einen Teppich von der Wand, um die Tresorwand zu offenbaren. Das Schlüsselloch glänzte in den letzten roten Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Wolken und die Fenster bis auf diesen Punkt gesucht hatten, nur um ihn zu verspotten.
Gwyn trat zu ihm. Immer wieder spürte er den Blick des Feuerspuckers und bemerkte die Sorge darin. „Wir haben keinen Schlüssel“, bemerkte der Zhaki schließlich leise, als traue er sich nicht, über die gegenwärtige Aufgabe zu sprechen, weil er merkte, dass sein Anführer in der Vergangenheit festhing, die ihn hinabsog wie Treibsand, je länger er in diesem Zimmer stand.
Seufzend schob Kylon die zitternden Finger in die Tasche und zog die Taschenuhr heraus, die ihm einmal mehr verriet, dass die Zeit ihn zu überrollen drohte. Ungewöhnlich ungeschickt zog er einen kleinen Schlüssel aus dem Uhrengehäuse und reichte ihn an seinen Feuerspucker weiter. „Sie werden das Schloss nicht ausgetauscht haben“, sagte er, weil er etwas sagen musste, um nicht den Verstand zu verlieren. Die weiß-blauen Vorhänge vor dem Fenster blähten sich leicht in dem Windhauch, der durch das angelehnte Fenster drang, während Gwyn betreten den Schlüssel annahm und das Schloss andächtig öffnete.
Ohnmächtige Feen lagen auf dem Käfigboden und zwei feingliedrige Gestalten stürzten aus Gwyns Gewändern darauf zu. Ein dickes Buch, eine goldene Figur und eine hölzerne Box umgaben das kleine Gefängnis. Er beobachtete Gwyn dabei, wie er vorsichtig den Käfig hob, für einen kurzen Augenblick die restlichen Gegenstände betrachtete, bevor er die Tür wieder schloss und den Schlüssel zurückgab. „Gehen wir?“, erkundigte er sich und klammerte sich an den Feenkäfig wie an einen Schutzschild.
Kylon drehte sich zum Gehen. Jeder Winkel dieses Zimmers erschlug ihn mit Kindheitserinnerungen. Es gab keinen rationalen Grund, keine gute Erklärung, warum ausgerechnet dieses Zimmer so schwer wog, zumindest sah er ihn nicht. Doch hätte er sich seinen Impulsen zu sehr hingegeben, hätte er keine Haftung dafür übernehmen können, was er getan hätte. Stattdessen war es taub und stumm in seiner Brust, während er steif und angespannte den Raum wieder verließ. Gwyn zog die Tür zu und das Klicken des Schlosses machte den Eindruck des Raumes ertragbar.
Weniger steif setzte sich Kylon in Bewegung. „Besser?“, fragte Gwyn vorsichtig und wagte es immerhin, ihn forschend von der Seite zu mustern.
„Wenn sie aufwachen, sollen sie eine Lösung für dich finden.“ Die freien Feen umschwirrten den Käfig noch immer in heller Aufruhr und versuchten, ihre Schwestern zu wecken.
Gwyn nickte und sie verließen das Schloss. Schweigen herrschte und als sei die Welt plötzlich etwas stiller, begegneten sie niemandem auf ihrem Weg ins Freie. Was immer dort im königlichen Schlafgemach geschehen war, hatte etwas verändert. Die Benommenheit wich erst langsam aus Kylons Gedanken und ein neues Gefühl mischte sich in die andauernde Trauer. Ob Gwyn es erkannte, konnte er nicht sagen. Er wusste nur dass es ihm unmöglich war, darüber zu sprechen, egal wie sehr er es wollte. Erst als die Spitzen des Tempels vor ihnen aufragten, traute sich Gwyn, das Schweigen zu brechen. „Ich will dir nicht beim Sterben zusehen“, sagte der Feuerspucker leise und es tat unumstößlich weh.
Ich auch nicht, wollte Kylon sagen. Stattdessen öffnete Machairi die Tempelpforte.
JO. Das war es dann für diese Woche. Dieses Kapitel hat übrigens die 200.000 Wörter überschritten! Krass!
Wie bewertet ihr dieses Kapitel? Wie fandet ihr Machairis Verhalten? Findet ihr es gut, wie er mit dem Bevorstehenden umgeht? Wie fandet ihr Gwyns Reaktion auf das Thema? Welche Fragen wollt ihr noch beantwortet sehen?
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