41. Kapitel - Erdbeben


Wieder tat Mico, was der Wahnsinnige gesagt hatte. Wieder verstand er den vollen Sinn des Plans nicht und wieder machte er zähneknirschend trotzdem mit. Gwyns Vorschlag machte ihm noch Sorge. Der Zhaki hatte viel zu ernst geklungen, als er sich selbst als Waffe vorgeschlagen hatte, und Mico war nicht bereit, allen Gruppenmitgliedern beim Sterben zuzusehen. Wenn Machairi sich von Zedian töten ließ, Gwyn in Flammen aufging, die Hatschi bereits gestorben war und Vica auf der falschen Seite stand, war plötzlich niemand mehr übrig. Die wichtigsten Menschen in Micos Leben kamen nicht aus dem Bienenstock, doch auch wenn ihm eigentlich nie viel an der Gruppe gelegen hatte, wollte er trotzdem nicht der einzige Überlebende sein.
Verbissen versuchte er, eine bessere Lösung zu finden. Leider wusste er zu wenig, um wirklich die Tragweite einer Handlung abschätzen zu können, und es hatte sich nichts daran geändert, dass er keine Idee hatte, wie es weitergehen sollte. Auf dem Weg zur Akademie fielen ihm die ungewöhnlich zahlreichen Menschen ins Auge, die nicht mehr im Bienenstock Platz gefunden hatten und sich nun zwischen den Wohnhäusern drängten. Konnte es sein, dass es keine Lösung gab? Dass sie dazu verdammt waren, einen Kampf zu führen, den sie nicht gewinnen konnten, und dass nur ein toter Machairi die Situation zumindest entschärfen würde? Mico hatte noch immer nicht ganz erfassen können, wer der Schatten tatsächlich war. Es schien gleichermaßen unglaublich wie passend. Er hatte den Eindruck, dass es ihn nicht hätte überraschen dürfen. Gwyn hatte nicht unrecht: sie waren alle blind gewesen. Gab es Menschen, die es erkannt hatten? Hatte der Harethiprinz begriffen, dass er mit dem Schatten eine sehr vergleichbare Position gemein hatte?
Das goldene Kuppeldach der Akademie wirkte glanzlos und dunkel unter dem Regenhimmel. Stolz streckte das Gebäude seine vielen Türme den dunklen Wolken entgegen und hob sich imposant davon ab. Es war surreal, dass ein solch stolzes und altehrwürdiges Gebäude eigentlich ein riesiger Käfig war. Die Akademie war eine angekettete Schönheit im Schatten der Krone und die drohenden, nahen Palastmauern waren selbst vom Innenhof zu sehen. Hätte Mico vor zwei Jahren gehört, dass er heute bereits zum zweiten Mal vollkommen unbehelligt herkommen würde und hoffentlich ebenso beliebig wieder gehen konnte, hätte er es für einen schlechten Scherz gehalten. Doch nun, versteckt hinter dem Namen, den er schon fast abgelegt hatte, wurde die Akademie nicht erneut zu seinem Gefängnis. Damit war er jedoch allein. Die anderen Magier saßen hier fest und fast hoffte er, dass Ebos‘ Nahen die Käfigtüren öffnen würde und – wer wusste das schon – vielleicht würden sie sogar geöffnet bleiben, wenn sie einen besseren Herrscher als Thredian fanden. Vielleicht konnte man Magie in Cecilia gar ebenso etablieren wie in Hareth, wenn sie dabei half, die Stadt zu retten. Falls sie dabei half. Ob die versammelten Magier das leisten konnten und vor allem ob sie es leisten wollten, würde sich nun herausstellen, und er war nicht unbedingt dankbar dafür, dass diese Überzeugungsarbeit an ihm hängen geblieben war.
Der magiebegabte Herzogssohn kannte sich noch gut genug in den Fluren der Akademie aus, um die Arbeitszimmer der Dekanin zu finden. Die Frau war klüger als er, mächtiger als er, strenger als er und für ihre resolute Art bekannt. Hoffentlich würde sie seinem Vorschlag zugetan sein, denn wenn nicht, überschätzte Machairi eindeutig Micos Fähigkeiten. Bereits vor der Tür spürte er die Magie, die in den Gemächern wirkte, und glaubte sogar, die Präsenz eines mächtigen Magiewesens zu spüren. Im Vergleich damit kam ihm seine eigene Magie schrecklich kümmerlich und schwach vor. Er war ein glorifizierter Dietrich und die Dekanin kam eher der imposanten Akademie gleich. Mico konnte nur hoffen, dass ihr Schloss besser zu knacken war, als vielleicht zu erwarten war. Er klopfte, bevor er weiter darüber nachdenken konnte.
Neyah Sturmglok stammte aus dem hohen Norden und hatte die herzliche, aber energische Art der Tumzuer mit in die Akademie gebracht. Sie ließ sich von niemandem etwas vormachen und verstand es, ihre Akademie vor der Willkür magiefeindlicher Könige und Adliger zu schützen. Ihrer Führung und ihrer magischen Raffinesse war es zu verdanken, dass in den alten Hallen noch gelehrt wurde und dass die Magier bekamen, was sie für Leben und Forschung benötigten. Ohne sie wäre das prunkvolle Gebäude zu dem verfallen, was Thredian und sein Vater eigentlich hatten sehen wollen: ein reines Gefängnis für die unerwünschten Magier. Mico hatte die Dekanin nur zwei Mal gesehen. Das erste Mal am Tag seiner Ankunft, als sie von der Eingangstür den Neuankömmling begutachtet hatte – allerdings gegangen war, bevor er sie erreicht hatte – und einmal in einer Vorlesung zum Magiewandel, als sie den vortragenden Magier unterbrochen hatte, um ihn auf ein dringendes Wort auf den Flur zu bitten. Schon lange gab sie ihr Wissen selbst nur noch an ausgewählte Studenten weiter, auch wenn man sich erzählte, dass ihre Vorlesungen früher wahrlich ihresgleichen gesucht hatten. Bis zu diesem Zeitpunkt war Mico nicht bewusst gewesen, wie nervös diese Koryphäe der Magiekunst ihn machen würde, doch als sich die Tür zum Arbeitszimmer mit einem magischen Knistern öffnete, rutschte ihm das Herz bis in die Kniekehlen.
Das rote Haar der Dekanin wurde von einigen grauen Strähnen durchzogen. Ihre Magierrobe war von einem eleganten Silber und mit Silberfaden waren endlos viele Zauberzeichen auf den Stoff gebannt. Sie waren schwer zu erkennen und selbst die, die Mico erkannte, konnte er bestenfalls zur Hälfte benennen, geschweige denn einem Zauber zuordnen. Ein strenger Blick aus blauen Augen verwandelte seine Nervosität in angespannte Ehrfurcht und er zog es vor, den Kopf zu senken. Der Raum war ein einziges Bücherregal. Jede kleinste Wandfläche war mit Büchern gefüllt, Lesepulte standen überall und Bücher flogen dazwischen umher und schienen sich selbst zu sichten. Mitten im Raum stand ein einziger Schreibtisch, auf dem eine Feder herrenlos schrieb, und die Dekanin stand inmitten des Raumes und schenkte der Tür und Mico ihre volle Aufmerksamkeit. „Ich sehe, Ihr kommt und geht nun nach Belieben. Es wird sicher einige Neider dieser Freiheit geben“, begrüßte sie ihn und er fragte sich, ob ein Vorwurf darin mitklang. Hatten manche der Magier es als persönliche Beleidigung angesehen, dass er von hier geflohen war? Er war schon überrascht genug, dass sie ihn überhaupt kannte und sogar mit einem Plural bedachte, obwohl ihnen beiden absolut klar war, wer von ihnen die Oberhand hatte. „Mein Beileid für Zen“, fügte sie dann hinzu und darin lag ganz sicher kein Vorwurf. Es war sogar leicht zu glauben, dass sie ernsthaft betroffen war.
Mico zog es vor, nicht an seinen sterbenden Vater zu denken und dass es vielleicht noch rechtzeitig gewesen wäre, um Hilfe zu schicken. Wusste er doch eigentlich, dass Ignotus seine Entscheidung getroffen hatte und es kein Zurück mehr gab, wäre die Versuchung dennoch zu groß geworden, hätte er den Gedanken zu lange zugelassen. Noch vor einigen Wochen hätte er behauptet, dass ihm das Schicksal seines Vaters vollkommen gleichgültig war. Doch all das gehörte nun nicht hierher. Mico erinnerte sich eines Bruchteils seiner Manieren – hauptsächlich, weil er sich fragte, was sein Bruder wohl getan hätte – und ließ sich zu einer leichten Verneigung hinreißen. „Vielen Dank, Déan“, antwortete er und adressierte die Dekanin, als sei er noch Student in dieser Akademie. Das lag allerdings auch daran, dass er nicht mit Sicherheit sagen konnte ob – und wenn ja welche – Bezeichnung ihr von Außenstehenden zustand. Vielleicht würde es einen Eindruck von Vertrautheit erwecken, der ihm behilflich sein würde.
Die Dekanin zeigte keine direkte Reaktion darauf. Ihre Miene war schwer zu deuten. Es lag ein freundlicher, distanzierter Hauch eines Lächelns auf ihren Mundwinkeln und Mico fühlte sich fast ebenso investigativ gemustert wie von Machairi. „Was führt den neuen Großherzog her?“ Es war keine Frage. Ihr Tonfall war so wissend und bestimmt, dass es sich unmöglich um eine echte Erkundigung handeln konnte. Sicher wusste sie längst, wer ihn schickte, doch Mico blieb an der Ansprache viel mehr hängen. Bisher hatte er weder die Zeit noch die Nerven gehabt, sich damit auseinanderzusetzen, dass entweder Tilo oder er das Erbe ihres Vaters würden antreten müssen, wenn er nun der Pustelkrankheit erlag. Wenn die Dinge so blieben, wie Machairi sie veranlasst hatte, würde diese Aufgabe tatsächlich ihm zufallen und dafür war er nicht bereit. Plötzlich erschien es ihm wesentlich nachvollziehbar, dass der Schatten sein Geburtsrecht ablehnte.
Mico drückte den Gedanken fort und konzentrierte sich lieber auf die Aufgabe vor ihm. Mehr blieb ihm ohnehin aktuell nicht übrig und wenn diese Frau ohnehin schon wusste, weshalb er hier war, konnte er das auch abkürzen. „Machairi schlägt vor, dass die Magier dabei helfen, die Stadt zu beschützen. Die Gegenseite hat einen Drachen und es ist wohl mit noch mehr Monstern zu rechnen. Er meint, dass die Menschen jeden erdenklichen Schutz gebrauchen können.“
„Ah, der Messerdämon.“ Wissend schmunzelte sie und erneut machte es den Eindruck, dass es da mehr zu wissen gab. „Da hat er sicher recht.“
Mico atmete auf. Das lief erstaunlich gut. Er hatte schon befürchtet, dass er ernsthafte Überzeugungsarbeit würde leisten müssen, und dafür war er definitiv nicht geeignet. Nicht in dieser Situation. „Also werdet Ihr eine großflächige Verteidigung aufbauen?“, vergewisserte sich und dann hatte er eine Idee. Was, wenn er Lia, Tilo und Mazulis hier unterbrauchte? Die Akademie war mit Sicherheit besser geschützt als die Katakomben unter dem Bienenstock und wenn die Dekanin so einsichtig war, konnte das doch eine gute Idee sein, oder nicht?
„Nein“, sagte die da und Micos Freude zerfiel wie eine Nebelgestalt. „Wir werden unsere Kräfte darauf konzentrieren, die Akademie zu schützen. Wir haben die größte Bibliothek des Kontinents und ich werde nicht tatenlos zusehen, wie ein zweites Mal der größte Wissensschatz unserer Geschichte verlorengeht. Außerdem ist unsere Zentralität hier ausnahmsweise von Vorteil. Gemeinsam können wir die Akademie schützen, wenn wir unsere Kräfte auf eine ganze Stadt, ja gar auf eine ganze Region ausweiten müssen, werden wir schwächer und angreifbarer. Wir bleiben hier, wo wir uns auskennen und wo wir das Einzige beschützen können, dass uns geblieben ist: Wissen.“
Hilflos klappte Mico den Mund zu. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wie konnte er ihr gleichzeitig vollständig zustimmen wollen und trotzdem das verzweifelte Bedürfnis haben, sie vom Gegenteil zu überzeugen? Sie hatte recht, aber es war trotzdem das Falsche. „Was … was ist mit den Menschen in der Stadt?“, fragte er schließlich, weil es der einzige plausible Einwand war, der ihm über die Lippen kam. Gebäude konnte man wiederaufbauen und ein unzulänglicher Schutz war nur geringfügig besser als gar kein Schutz, wenn die Alternative ein gebündelter Schutzschild war. „Sie werden sterben ohne jeden Schutz.“
„Ich habe dem König schon vor Jahren gesagt, dass es besser wäre, in der ganzen Stadt Schutzzauber zu sprechen, aber die Abneigung des Adels gegen Magie war stärker als das Sicherheitsbedürfnis. Ich fürchte, dass sie diese Entscheidung nun bereuen werden, aber es ist zu spät, es noch zu ändern.“ Sie sprach ohne Wut oder Häme und vielleicht konnte man etwas Bedauern sehen, wenn man danach suchen wollte.
Mico schüttelte den Kopf. „Es ist nicht die Schuld der normalen Bürger, dass der Adel ignorant ist.“ Vielleicht hätte er das früher anders gesehen, aber nun waren unter diesen normalen Bürgern Menschen, die er um jeden Preis schützen wollte.
Neyah seufzte bedauernd. „Ich möchte daran erinnern, dass auch die normalen Bürger der Stadt Vorurteile gegen Magie hegen. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass ich darin eine Rechtfertigung für ein Massensterben sehe. Ich bin gerne bereit, die Türen der Akademie für alle jene zu öffnen, die den Weg hierher wagen.“
„Sie passen doch nicht einmal in die Stadt … wie sollten wir alle Schutzbedürftigen in der Akademie unterbringen?“ Die Akademie mochte größer sein, als sie aussah, über viele Stockwerke ober- und unterirdisch verfügen und eine beeindruckende Menge Platz bieten, aber es würde vielleicht ausreichen, um die üblichen Bewohner des Bienenstocks unterzubringen. Platzkapazitäten waren dehnbar, das wusste er spätestens, seit sie die Flüchtlinge in Zen aufgenommen hatten, doch genauso hatten sie irgendwo eine Grenze und Magie hin oder her, die Akademie konnte diesen Platz nicht bieten. Nicht einmal, wenn sie die Menschen buchstäblich gestapelt hätten.
„Ihr werdet Euch wundern, wie wenige tatsächlich bereit sind, für Sicherheit ihre Vorurteile abzulegen. Sie werden erst zu unseren Toren kratzen, wenn es längst zu spät ist und wir niemanden mehr einlassen können.“ Die Dekanin fuhr über ihre Hände, als wolle sie eine Creme verteilen.
„Also lassen wir sie tatsächlich sterben? Können wir das zulassen?“ Warum sträubte er sich derart dagegen? Er war keine Person, die sich für das Wohlergehen völlig fremder Menschen einsetzte und die Dekanin hatte nicht Unrecht. War es nicht besser, die magietoleranten Menschen und Bewohner der Akademie mit allem zu schützen, was sie zu bieten hatten, anstatt einen drittklassigen Schutz über Ignorante zu legen, die ihre Hilfe vielleicht nicht einmal wollten? Gab es tatsächlich eine Alternative? War ein Schutz, der früher oder später nachgeben würde, nicht ohnehin sinnlos? War es da nicht besser, eine gesicherte Zuflucht zu haben? Andererseits konnte niemand sagen, wie weit ihre Magie sie schützen würde, wenn es erst soweit kam, dass Ebos sein Ziel erreichte. Eine geschützte Akademie inmitten eines schwelenden Schlachtfelds war doch auch nichts wert, oder doch?
Die Dekanin seufzte leise. „Eine Lektion, die ich in meinem Leben mehrfach lernen musste, bevor ich mich daran gehalten habe, ist, dass man nicht helfen sollte, wenn die Hilfe nicht erwünscht ist. Egal, wie offensichtlich das Problem, egal wie sicher ich mir der Lösung war, egal wie selbstlos und gut meine Absichten gewesen sein mögen: ungebetene Hilfe wird bestraft. Selbst sie anzubieten, wird mit Argwohn betrachtet. Das Beste ist, sich rauszuhalten, solange man nicht einbezogen wird. So schmerzlich es auch sein mag.“
Mico knirschte mit den Zähnen. Er wusste, dass er diese Diskussion nicht gewinnen konnte. Er hatte schon jetzt nichts mehr zu sagen, besonders, da sein Helfersyndrom noch nie ausgeprägt gewesen war. „Frage ich nicht gerade um Hilfe?“, war das Einzige, was ihm einfiel.
„Wenn die Menschen nicht wissen, dass ich für sie spreche, kann ich ebenso gut schweigen.“ Sie musterte ihn ruhig und überlegt. Dabei behielt sie ihn genau im Auge, als wollte sie ein Bild von ihm malen. „Wenn ich einen Ertrinkenden im Wasser sehe, kann ich nichts für ihn tun, außer ihm eine Hand hinzuhalten. Wenn er sie nicht annehmen will, wird jeder weitere Versuch, ihn aus dem Wasser zu ziehen, nur damit enden, dass er mich mithinein zerrt. Kefa ertrinkt schon seit langer Zeit. Unsere Hand ist ausgestreckt, obwohl sie bereits zerkratzt und fortgeschlagen wurde. Sollten unser Hallen tatsächlich an ihre Grenzen stoßen, werden wir dann sehen, wohin wir unsere Zauber vielleicht ausweiten können.“
Mico gab auf. „Was ist mit Drachen und Monstern? Werden die Zauber da ausreichen?“ Er persönlich kannte nur einen einzigen Zauber, der auch nur anfänglich hilfreich hätte sein können, und beim letzten Mal hatte der Drache ihn trotz seiner zentrierten Chaosenergie fast in Stücke gerissen. Unwillkürlich zuckte Micos Hand zu seinem Gesicht. Warum musste die bescheuerte Vogeltante ausgerechnet einen Drachen haben? Bei den Göttern, gab es nicht irgendeinen zuverlässigen Schutz gegen diese Kreaturen? „Könnte man nicht wenigstens zusätzlich den Tempel schützen?“, schlug er spontan vor, als er an Götter dachte. „Es wären bestimmt mehr Menschen bereit, dorthin zu flüchten und es gibt auch in den Tempelhallen schützenswerte Gegenstände, nicht wahr?“
Die Dekanin zögerte. „Nun, Galva hat eine ungewöhnlich offene Einstellung gegenüber Magie, besonders für einen Prediger.“ Sie seufzte. „Ich werde sehen, ob ich vielleicht eine Möglichkeit finden kann, auch den Tempel zu beschützen. Und ich werde Verkündigungen schreiben, dass wir Schutzsuchende aufnehmen werden. Mehr kann ich nicht anbieten.“
Immerhin etwas. „Dann wird er sich damit zufriedengeben müssen“, gab Mico nach und verneigte sich. „Danke, Déan.“
„Im Angesicht solch düsterer Stunden kann ich versichern, dass ich tun werde, was immer in meiner Macht steht und was ich vertreten kann, um die meinen zu schützen, um so viel von dieser Welt zu bewahren, wie ich kann.“ Nun war ihr ein Hauch der Sorge anzusehen, aber die Entschlossenheit in ihrer Stimme und in ihren leuchtend blauen Augen machten es ertragbar. „Bringt jene her, die Ihr so dringend beschützen wollt“, sagte sie dann und Mico stockte. Hatte sie seine Gedanken gelesen oder stand ihm die Sorge tatsächlich so deutlich aufs Gesicht geschrieben?
Etwas perplex murmelte er einen weiteren Dank und eine Verabschiedung. Plötzlich war sie ihm unheimlich und je länger er in diesem Raum stand, desto angespannter wurde er. Außerdem hatte er plötzlich das Gefühl, dass ihm noch immer die Zeit davonlief, und er verließ das Arbeitszimmer eiligen Schrittes.
Als er die Akademie verließ, hing die Sonne bereits direkt am Horizont. Sie färbte die Wolkentürme bedrohlich rot, während aus dem Osten bereits die Nacht über den Himmel schlich. Dieses Farbenspiel mochte bewundern, wer wollte, doch Mico wurde kalt davon. Blutrote Wolkenbilder brachten ihn zum Schaudern, denn sie zeugten von dem Unheil, das ihnen bevorstand. Als hätte es ihn gehört, ging ein Beben durch die Stadt. Es mochte ein Streich seines Verstandes sein, denn in der Nähe polterten zwei Fässer von einem Vorratswagen, rollten durch die Gasse und zerschlugen an einer Hauswand. Eine tiefrote Flüssigkeit versickerte zwischen den Steinen. Rotwein. Zufall? Oder war es bereits zu spät? Von dieser Sorge getrieben, rannte er zurück in den Bienenstock. Das Kopfsteinpflaster erschwerte die Schritte und schien ihn ausbremsen zu wollen, obwohl er es doch schrecklich eilig hatte. Immer wieder glaubte er, ein Grummeln zu hören, ein leichtes Gefühl, als schwanke der Boden, und die Wellen peitschten gegen die lange Brücke, als er endlich den Hafen erreichte. Der Magier spürte, dass ihm die Zeit wie Sand aus den Fingern rann. Auch der Rest der Menschenmenge hatte es gemerkt. Unruhe zog ein und auch wenn es nur behutsame Vorboten waren, schwand ihre Zeit.
Mico wusste, dass er zu viel Zeit brauchen würde, um das Wort zu verbreiten, dass die Magierakademie Zuflucht bieten konnte. Er schrie es den Menschen zu, während er sich an ihnen vorbeidrängte und in wachsender Panik seinen Weg bahnte. Warum hatte er sie zurückgelassen? Er hätte sie gleich mitnehmen sollen. Wäre er doch nur früher auf den einzig sinnvollen Gedanken gekommen! Das nächste Beben war so stark, dass es die Fensterläden der schiefen Häuser zum Klappern brachte und er hörte erschrockene Schreie in der Ferne. Sie waren zu spät. Er wusste es. Es begann und sie waren nicht vorbereitet. Energisch stieß er einen älteren Mann zur Seite und kämpfte sich weiter voran. Längst hatte er aufgegeben, irgendjemandem vor der von der vagen Hoffnung einer Zuflucht zu berichten. In haltloser Panik kämpfte er sich zum nächsten Eingang in die Katakomben. Einen Augenblick tastete er hilflos über eine Wand, unschlüssig, welches die Richtige war, während grüne Funken von seinen Fingern stoben. Magie wühlte sich durch die Straßen, düster und drückend wie ein giftiger Nebel. Mico spürte es in jeder Faser und dann fand er die Illusion, die ihm sonst nie entgangen wäre.
Gerade wollte er die Treppe hinabeilen, da schüttelte ein Beben den Bienenstock. Steine fielen von der Decke und füllten die Tunnel mit dem Klappern kleiner Steinschläge, das sich mit den Schreien vermischte, die an der Oberfläche laut wurden. Mico schwankte, fing sich nur knapp an der Wand ab und hielt sich fest, während die Erde bebte. Doch es hörte nicht auf. Er wartete einen Atemzug, zwei, die hektisch gegen seine Lippen stießen, und ihm wurde schwindelig. Ein Steinbrocken schlug neben ihm auf den Boden und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Das Erdbeben brachte die Katakomben zum Einstürzen und dann begann er zu rennen. Fast stürzte er die Treppe hinab, stolperte gegen die Wände und hechtete über die Flure, während Steine auf ihn hinabstürzten und die Angst nur noch schlimmer machten, die sein Herz in ihren Klauen hielt. „Lia!“, brüllte er gegen den Lärm des Weltuntergangs an, als könnte es irgendetwas and der grauenvollen Angst ändern. Er durfte sie nicht verlieren!
Mico rannte. Er rannte um sein Leben, um ihr Leben. Doch als er die rechte Tür endlich erreichte, fand er einen leeren Raum. Ein umgestürzter Stuhl lag neben dem Tisch und die Tür stand sperrangelweit offen. Steinstaub bedeckte die Tischplatte und dann wurde das Beben noch stärker. Als neige sich die ganze Insel zur Seite, stieß der Türrahmen gegen Micos schmerzende Schulter und jagte sengende Hitze durch seinen Körper. Es klirrte in seinen Ohren und dunkle Punkte tanzten durch sein Blickfeld, während der grüne Glanz, der von seinen Händen ausging, den Raum immer weiter erhellte. Das Beben schüttelte in der Trägheit eines Wimpernschlags einen gewaltigen Brocken aus der Decke, der den Tisch zerschlug und Staub in Micos Lunge treiben wollte.
Irgendwie rannte er weiter. Schrie die Namen seiner Familie gegen den Lärm an. „Lia! Tilo! Mazulis!“ Immer und immer wieder, doch nicht einmal er konnte seine Stimme hören, und er rannte in Richtung des Ausgangs bis zu der schmalen Treppe zum Pesthaus. Waren sie hier? Waren sie entkommen? Oder eilten sie durch die Flure, verloren, desorientiert, jede Sekunde in der Gefahr von den immer größer werdenden Brocken erschlagen zu werden? Furcht zog ein, gab der unruhigen Magie noch mehr Nahrung, die sich gegen die wachsende Finsternis auflehnte. Dunkle Magie waberte so überdeutlich durch jede Ritze des Bienenstocks, dass sie den Magier von den Füßen riss. Auf Knien und keuchend hockte Mico vor der Treppe und kämpfte gegen die erdrückende Last der fremden Magie, gegen das Beben der Erde und die betäubende Angst in seinem Herzen.
Es war ein Schrei, der den Lärm übertönte und ihn wieder auf die Beine zu bringen vermochte. Er kam von vorn, war hoch und voller Angst und Mico stürzte die Treppe hinauf, als ihn die Angst seines Sohnes überrollte. Es war kaum möglich, die Treppe zu erklimmen, so sehr zitterten seine Knie, so sehr bebte der Boden, und die fallenden Steine wollten ihn erschlagen. Trotzdem kämpfte er sich voran, hörte Stimmen, verzerrt von panischer Angst, die ihm das Herz zerrissen.
Lia hatte sich an der Wand zusammengekauert und hielt sich schützend über ihrem Sohn, der sich weinend an sie klammerte, während Tilo, aus einer Wunde an der Stirn blutend, versuchte, die Luke aufzustemmen, die ihnen den Weg in die Freiheit versperrte. Das Licht einer schwach glimmenden Gaslampe tauchte die bleichen Gesichter in goldenen Schimmer und unterstrich die dunklen Schatten der Angst. Wieder rumpelte es und Tilo fiel seinem Bruder entgegen, der sie beide nur mit großer Mühe und grauenvollen Schmerzen abfing, bevor sie die Treppe hinabstürzen und sich den Hals brechen konnten.
„Es klemmt!“, brüllte der jüngere Ristophlis gegen das Rumpeln der Steine an und wurde dennoch übertönt, als mit einem lauten Knacken die Decke über ihnen von einem langen Riss durchzogen wurde und mehr Steine auf sie regnen ließ. Schützend hielt Mico den beweglichen Arm über den Kopf und kniff die Augen zusammen, doch der Regen endete nicht. Ein weiteres Knallen von springendem Stein verriet, dass ihnen keine Zeit zur Flucht blieb. Obwohl die Schwerkraft ihn nach unten zog, erklomm er schwerfällig die letzten Stufen und drückte gegen die Luke. Er hatte weder die Konzentration noch die Zeit, die Struktur zu erkennen oder das Problem zu verstehen, sondern drückte die Hände mit schweren Armen gegen die Holzklappe.
Mico nutzte die rasende Magie in seiner Brust und stieß sie in seine Finger. Schrumpfen, zerbersten, verflüssigen – es war ihm gleich, was mit der Materie geschah. Er dachte nicht darüber nach, ob es eine gute Idee war, wenn ihnen das Holz entgegenfloss, oder dass – was immer die Luke versperrte – auf sie niederstürzen mochte, wenn er die Klappe sprengte. Er hörte das Weinen seines Sohnes und das Klappern der Steine, die es ihnen unmöglich machen würden, einen anderen Ausgang zu suchen, falls sie es überhaupt die Treppe hinabgeschafft hätten. Es funktionierte nicht. Die Sekunden verstrichen viel zu schnell und seine Beine gaben mehr und mehr nach, wollten den Herausforderungen des Erdbebens nicht standhalten. Doch dann, gerade als er glaubte, einen anderen Ansatz versuchen zu müssen, schlug eine Welle düsterster Magie über sie hinweg und die Magie unter seinem Brustbein antwortete. Die Explosion riss ihn von den Füßen, schleuderte ihn gegen die Wand und riss mehr als eine Wunde, doch die Luke war geöffnet. Obwohl ihn etwas hart am Kopf getroffen hatte und ihn benebeln wollte, zerrte er sich auf die Füße.
Er griff nach seinem Bruder, stieß ihn auf die Luke zu und strauchelte hinüber zur anderen Wand, um sich daran abzustützen, während er Lia zu sich zog. Es war fast unmöglich. Mit einem Arm hielt sie fest Mazulis umklammert und die Gewalt dieses Bebens zerrte an ihr und unter ihren Füßen zerbrachen die Treppenstufen. Für einen Augenblick begegnete Mico ihren herrlichen Augen und eine Erinnerung an die endlosen Nächte voller Schuld durchzuckte ihn, er dachte zurück an die Wüste, als eine Illusion von ihr ihm beinahe den Verstand geraubt hatte, und sah sich wieder vor ihrer Tür stehen, nach so vielen Jahren. Ihre schwitzigen Finger drohten seinen zu entgleiten und er hatte nicht genug Halt, um ihr Gewicht zu halten. Schon glaubte er, sie die Treppe hinunterstürzen zu sehen, die diese Bezeichnung immer weniger verdiente. Er konnte sie nicht verlieren. Er konnte nicht.
Eine Hand streckte sich durch die Luke ihm entgegen und Mico griff danach, stürzte wie durch ein Wunder nicht selbst in die Tiefe, während die Welt sich immer mehr zu neigen schien. Getrieben von der Panik, die ihn noch immer fest im Griff hatte, die mit jedem herabstürzenden Stein, jedem Riss in der Decke schlimmer wurde, und von den rasenden Kräften um ihn herum, wendete er all seine Kraft auf, um sie alle zur Luke zu zerren. Der lädierte Arm gab diese Bewegung eigentlich nicht her. Der Schmerz in der Schulter drohte, ihn in Ohnmacht zu stoßen, doch Tilo zog und Mico hielt fest und irgendwie zog er sich durch die Luke. Die beiden Brüder halfen Mutter und Sohn, während der Gang hinter ihnen jeden Augenblick zusammenbrechen würde.
Stöhnend fiel Mico auf den wackelnden Boden. Das Pesthaus war bereits nicht mehr. Er lag auf hölzernen Trümmerteilen und hörte die Schreie der Stadt wieder. Schwer atmend lag er auf dem Rücken, hustete vom Staub und schmeckte Metall und Schweiß auf der Zunge. Mico wusste nicht, wie er wieder aufstehen sollte, und dann fegte ein Knall über sie alle hinweg, der lauter war als alles, was sie je gehört hatten. Wie ein Windstoß rollte der Schall durch die Straßen und riss um was noch stand. Dann war das Beben plötzlich vorbei. Betäubt von Schmerz und erschlagender Magie starrte Mico in den blutroten Himmel und konnte zusehen, wie sich jenseits der nächsten Ruinen ein Schatten vor dem Himmel erhob. Dunkel zeichnete sie sich gegen die Wolkendecke ab. Riesige Flügel streckten sich und trugen die Kreatur immer höher. Er hörte Lias ersticktes Wimmern und ein erschrockenes Luftholen von seinem Bruder. Sie würden es nicht bis in die Akademie schaffen, denn Vica saß auf dem Rücken eines gewaltigen Drachens und schien direkt auf ihn herabzusehen.


Wenn man 1660 Wörter in 50 Minuten schreibt, bedeutet das fast 2 Wörter pro Sekunde. Nur weil es gestern Abend unwahrscheinlich gut im Flow war, ist dieses Kapitel heute fertig! Eigentlich sollte etwas anderes passieren, aber Mico ... nun... Mico hat mich eines Besseren belehrt und ich kann mich nicht beschweren. So ist es nämlich wesentlich sinnvoller. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie das Ende noch so wird. Gestern habe ich meine Kapitelübersicht überarbeitet und es ist alles total schwierig abzusehen. Hoffen wir also, dass unsere Dudes das alles schön hintereinander bringen XD.

Jedenfalls freue ich mich sehr über den Beginn des Untergangs. Es hat sich lange genug hingezogen und jetzt ist es bereit. Freut ihr euch oder habt ihr Angst? Oder beides ;)? Dieses Finale wird drei hauptsächliche Schauplätze haben. Ihr dürft mal raten, welche das sein werden und wer sich dort befinden wird XD. Außerdem hätte ich gerne Vermutungen darüber, wie Micos Geschichte ausgeht? Was wird aus seiner Familie? Wird er mit Vica und ihrem Drachen konfrontiert? Überlebt er den Schissel? Wie wird er nun reagieren?

Erzählt es mir in der spannenden Kommentarbox!