42. Kapitel - Seine Dunkelheit


Das Feuer inmitten des Tempels glomm nur schwach. Als wäre ein Windstoß durch die weiße Halle gefahren, waren die meisten Kerzen erloschen. Im Klang des Gewölbes entfaltete sich jeder Schritt zu einem gespenstischen Klopfen und die steinernen Verzierungen warfen dunkle, zuckende Schatten im schwachen Licht des Feuers. Der Tempelvater hatte das Schwert in den Tempelraum gebracht und alles war bereit. Nur Zedian fehlte noch, um seinem Leben ein Ende zu bereiten. Machairi ließ die Finger über die Messergriffe gleiten und spürte unumstößlich das leichte Ziehen von Angst. Er ermahnte sich, sich nicht davon beeindrucken zu lassen. Dieses Mal musste er sich mehr Mühe mit dem Sterben geben, ohne Zedian den Kampf zu schenken.
Die Minuten verstrichen und sie standen schweigend unter der Kuppel. Gwyn hatte den Käfig abgestellt und machte sich an dem Schloss zu schaffen, aber der Feuerspucker war ein miserabler Schlossknacker und die Finger der bandagierten Hand bebten, als sei er derjenige, der hier sterben sollte. Es war nicht mitanzusehen. Immer hektischer drehten sich immer mehr Messer um seine Hände, die ihn nicht zu beruhigen vermochten, und schließlich bewegte er die Hand und warf direkt auf den Bügel. Das Vorhängeschloss war von geringer Qualität und auch wenn sich jemand die Mühe gemacht hatte, einen kleinen Zauber darauf zu legen, war das Metall dem Stahl der Dämonenklinge nicht gewachsen. Das Schloss fiel mit einem lauten Klirren auf die Fliesen und das Messer landete im Käfig und verfehlte eine der ohnmächtigen Feen aus scheinbarem Zufall nur knapp.
Gwyn war zusammengezuckt und blickte erschrocken zu dem Schatten hinüber, bevor er die Käfigtüre öffnete. Die beiden freien Feen huschten zu ihren Schwestern und Gwyn hob nach kurzem Zögern das Messer auf. Während der Tempelvater aus einigem Abstand und mit leichtem Argwohn die magischen Wesen begutachtete, stand der Feuerspucker auf. Die Geschehnisse im Schloss hatten ihm zumindest einen Teil seiner Angst genommen und er wagte es sogar Machairi ins Gesicht zu sehen, als er das Messer zurückgeben wollte.
Kylon nahm es nicht an. „Behalt es. Ich werde sie nicht mehr brauchen.“ Es war eine spontane Entscheidung. Der Feuerspucker mochte kein guter Kämpfer sein, aber er würde mit einer scharfen Klinge verteidigungsfähiger sein als ohne, solange sein Feuer ihm nicht gehorchte. Es fühlte sich besser an, den Zhaki mit einem ordentlichen Werkzeug in den anstehenden Kampf zu entlassen. Für einen Augenblick starrten die grünen Augen des Feuerspuckers ihn erschrocken an, bevor er den Blick traurig auf die Klinge senkte. Kylon unterdrückte ein Seufzen. Ihm fiel keine gute Verabschiedung ein, aber er hatte nicht das Bedürfnis, in diesem noch immer unnötig angespannten Verhältnis auseinanderzugehen. „Versuch, noch eine Weile weiterzuleben, und sorg dafür, dass du nicht mir folgst, wenn es so weit ist.“ Er wollte Gwyn nicht in der Unterwelt wiedersehen. Vielleicht würde Galva ihm dabei helfen können, dass die Götter ihm seinen Massenmord in Om’falo verziehen und seine schlechten Entscheidungen nicht gegen ihn hielten.
Ein leises Schmunzeln war zu hören, auch wenn der Feuerspucker noch immer das Messer in seinen Händen betrachtete. „Ich schätze, die Pfeife ist geraucht.“
„Nun, eigentlich ist es möglich …“, mischte sich Galva ein, doch er wurde von der Tür unterbrochen, als endlich der harethsche Todesbringer eintrat. Er hatte sich symbolträchtig in die Farben Cecilias gekleidet. Ein silberner Gehrock über einem blauen Hemd ließ ihn wenigstens aussehen, als sei seine Herausforderung ihm ernst.
Zedian störte sich nicht an der Stille im Tempel. Ruhig ließ er den Blick über die Verzierungen gleiten und betrachtete die Zeichen der Götter. „Wahrlich ein schöner Ort, das muss man dem Zylonglauben lassen.“ Hareths Prinz trat noch etwas näher und drehte den Kopf von einer zur nächsten Verzierung. Er blieb mit dem Blick an Anamalias Wand hängen und lächelte. „Das Beanspruchen des Throns hat mir im Palast nicht unbedingt Freunde beschert. Ich bin mir sicher, dass die trauernde Witwe ebenfalls einen Vertreter schicken wird.“
Machairi schmunzelte. Davon war auszugehen. Die junge Königin würde nicht dabei zusehen, wie ihre mühsam erkämpfte Macht innerhalb eines Tages an ihre Stieftochter und einen Harethi überging. Sie hatte es vollbracht, den elenden König, den Hofstaat und letztlich auch sich selbst davon zu überzeugen, dass sie ihre Position verdiente. Sie kam aus einer Händlersfamilie und hatte sich ihren Platz an der Seite des Königs mit allen Mitteln erkämpft. Kylon hatte Ähnlichkeit zu Ákarda von Anfang an mit Unwohlsein beobachtet. Auch Karemis‘ Frau hatte sich den Weg zu ihm mit Verbrechen erkämpft und dann hatte ein Usurpator ihr diese Macht wieder entrissen. Für Lydisias jungen Sohn blieb nur zu hoffen, dass sich die beiden Frauen nicht auch dahingehend glichen. „Sorgen wir dafür, dass dieses Problem nur noch einen von uns betrifft“, sagte Machairi. Es klang würdevoller als töte mich, bevor der Krieger hier auftaucht.
„Interessant“, bemerkte Zedian. „Ich hatte fest mit einem Hintergedanken dieser Herausforderung gerechnet.“ Der Prinz verbarg seine Nervosität gut. Er wollte sich nicht erneut duellieren, dafür erinnerte er sich noch zu gut an die Blamage an Deck des Schiffs, als sie einander das erste Mal gegenübergetreten waren. Trotzdem verstand er es, den Impuls mit dem Schwertknauf zu spielen immer wieder fortzuschieben, nicht an der silbernen Jacke zu nesteln und seinen beschleunigten Herzschlag zu ignorieren. Diesen Prinzen als Pendant in Hareth zu haben, wäre eines der wenigen schlechten Dinge an der Krone gewesen. Sie hätten gemeinsam Gutes bewegen können, endlich eine Generation ohne Krieg heranwachsen sehen. Mehr brauchte es gar nicht. Keine ewige Freundschaft, sicher keinen geteilten Thron, nur gegenseitige Akzeptanz. Doch Machairi hatte andere Pläne und er würde daran festhalten. Es würde keinen Frieden geben, wenn Ebos das Wort führte. „Also werden wir um Cecilias Thron kämpfen“, stellte auch der Sultanssohn fest.
Kylon hasste diesen Plan. Er hasste Gwyns flehenden Blick und die weit aufgerissenen Augen. Er hasste das schillernde Schwert, das in einem Kasten in Galvas Händen wartete und er hasste die verrinnenden Sekunden der Zeit, die ihm blieb. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass er mit dieser Welt noch nicht fertig war, auch wenn er längst hätte tot sein sollen. Elende Sentimentalität. „Ich habe das Geburtsrecht auf diesen Thron. Ich fordere dich auf, deinen Anspruch zu widerrufen oder ihn zu verteidigen.“
Zedian seufzte. „Ich schätze, ich muss diese Herausforderung annehmen.“ Sie hassten diesen Plan beide.
Das schwarze Mal pochte aufgeregt und begann bereits, die Dunkelheit in seinem Träger zu verbreiten. Ebos‘ Hilfestellung war bereit. Sie war die Einzige. „Wahl der Waffe?“, fragte Machairi mit unbewegter Stimme, verbannte die aufkommende nervöse Anspannung aus der Melodie seiner Stimme und ließ ein Messer durch die Hand tanzen, als wollte er dem anderen Prinzen einen Vorschlag machen.
„Schwert. Und du wirst diese ganzen Messer ablegen müssen. Wir wollen einen ehrenhaften Kampf, nicht wahr?“ Sie sprachen fast, als wären sie Freunde. Das Schmunzeln des Harethi verriet ihn. Sie wussten beide, dass der Messerdämon seine Messer in diesem Kampf nicht verwenden würde, dass er sie würde zurücklassen müssen.
Demonstrativ warf Machairi die erste Klinge auf den Boden vor den Kamin. Das Klingen von Metall auf Stein erfüllte den ganzen Tempel und eines nach dem anderen folgten die weiteren Messer, die der Schatten mitführte. Fünf gewöhnliche Messer trug er mit sich, wenn er wusste, dass er die Waffen nicht zurücknehmen konnte. Die restlichen vierundsechzig Klingen waren aus einem Teil der schicksalhaften Schwertklinge gefertigt worden. Selbst Machairi war lange davon überrascht gewesen, dass sie gemeinsam kaum mehr wogen, als das Schwert gewogen hatte, und dass sie immer wieder alle an den Messergürteln und Scheiden Platz fanden. Er hatte die Waffe zerstören wollen, als er die Messer hatte fertigen lassen, stattdessen hatte er sie zum Teil seiner Identität gemacht. Er fühlte sich seltsam nackt ohne sie.
Zedian nickte und wandte sich an Galva. „Ich denke, Ihr habt ein Schwert für mich?“
Gwyn starrte auf den Messerhaufen und dann auf die letzte Klinge in seiner Hand. „Gibt es wirklich nichts anderes, was wir noch probieren könnten?“, fragte er leise, während der Harethiprinz auf den Tempelvater zuschritt, um sich seiner Waffe anzunehmen. „Kann ich nicht irgendwie …“
„Nein“, unterbrach Machairi ihn. „Aber du kannst mir einen Gefallen tun.“ Es war lange her, dass er jemanden um etwas derart Persönliches gebeten hatte, aber der Gedanke lauerte schon, seit er den Bienenstock verlassen hatte, und überwältigte ihn nun, bevor er darüber nachdenken konnte. Doch er hatte die volle Aufmerksamkeit des Feuerspuckers und so sprach er den Gedanken aus. „Sorg dafür, dass Leén ein angemessenes Begräbnis bekommt, sobald dieser Wahnsinn vorbei ist.“ Der Name tat weh. Der Gedanke an ihr fahles Gesicht und ihre kalte Haut schnürten ihm die Luft ab und nur der Gedanke, dass er sie gleich wiedersehen würde, beruhigte die aufwallende Trauer wieder, auch wenn er von einer neuen Traurigkeit begleitet wurde.
Gwyn nickte und schluckte. Er kaute so sehr auf seiner Lippe, dass er bereits blutete. „Natürlich“, murmelte der Zhaki und zupfte einen weiteren Hautfetzen von der Unterlippe. Er rang mit sich und drehte den Messergriff in der Hand. „Bevor … ich muss noch etwas beichten“, flüsterte der Feuerspucker schließlich. Dann griff er zögerlich an den Kragen und zog die Kordel auf, die das Gauklerhemd oben zusammenhielt. Als er den Stoff ein Stück weiter runter schob, gab er den Blick auf ein Sklavenmal auf der gebräunten Haut frei. Es juckte Machairi in den Fingern, den anderen kräftig zu ohrfeigen, und er bereute sehr, dass er seine Messer bereits abgelegt hatte. Er erwischte sich sogar dabei, dass er die Hand bewegte, als könnte ein Messer hineinrutschen. „Der Schmied wollte es nur austauschen … nicht entfernen, und dann habe ich gedacht …“ Dieses Mal wagte Gwyn es nicht, dem Schatten ins Gesicht zu sehen. „Tut mir leid“, fügte er murmelnd hinzu.
Der todgeweihte Prinz betrachtete das M auf der Haut seines Freundes. Kylon hasste Sklaverei, weil er das Gefühl kannte, der Willkür eines anderen ausgeliefert zu sein. Er hasste Floskeln, weil sie ihn einer Position erinnerten, die er nicht wollte. Er hasste Unterwürfigkeit, weil sie ihm seine eigene scheinbar unberechenbare Grausamkeit vorführte. Doch bei Gwyn hasste er diese Dinge ganz besonders. Weil Leén tatsächlich nicht Unrecht gehabt hatte und sie auf eine ungesunde Weise Freunde sein mochten. Weil zu dem freien Gwyn ein niemals endendes Grinsen gehörte und er seine beeindruckend selbstlose Hilfsbereitschaft ausleben konnte. Es wurde Zeit, dass es zurückkehrte. „Sieh zu, dass du es loswirst, und dass kein neues seinen Platz einnimmt“, sagte Kylon nach einer kurzen Pause, statt mit Wut zu reagieren.
Das brachte ihm erneut Überraschung ein. Verlegen ließ Gwyn das Hemd los und fuhr sich durch die Locken. „Eigentlich hatte ich gehofft, dass ich es behalten darf. Es ist wesentlich praktischer als die komische Bandage.“
Das entlockte ihnen beiden beinahe ein Lachen. Beinahe. „Meinetwegen. Tote geben ohnehin keine Befehle.“ Gefallen wollte ihm die Vorstellung nicht, aber ihre Zeit war vorbei und freigelassen hatte er seinen ersten und einzigen Sklaven längst. „Vergiss vor lauter Herz den Verstand nicht“, war der letzte Rat, den er gab, bevor er vortrat und das Schwert annahm, das Zedian ihm hinhielt. Es war eine elegante, schöne Waffe. Der Griff lag fest im weißen Handschuh und für einen kurzen Augenblick reisten Kylons Gedanken zurück zu endlosen Übungsstunden, zu schmerzenden Gliedern und gnadenlosen Strafen für jeden Fehler, jedes Zögern, jede Imperfektion. Es war lange her. Und doch fühlte sich das Schwert vertraut an, als hätte er es eben erst aus der Hand gelegt. Alles in ihm sträubte sich, Ákardas bevorzugte Waffe ausgerechnet jetzt zu führen, und er musste schlucken, um die Trockenheit in seinem Hals zu bekämpfen. „Bis zum Tod“, sagte Machairi und ging in Kampfhaltung, die einst so selbstverständlich gewesen war.
Zedians göttliche Waffe glänzte, ohne dass Licht auf die Klinge fiel. Ihre Magie war in jedem Winkel des Tempels zu spüren. „Bis zum Tod“, bestätigte der Harethi und eine Spur von nervösem Bedauern zeichnete die dunklen Züge. Dann kreuzten sich die Klingen.
Das Klingen von Metall auf Metall brachte den Tempel zu beben. Die Götterwände warfen das Geräusch energisch zurück und selbst die Flammen des prasselnden Feuers schienen zusammenzuzucken. Das Schwert war lange nicht so flink und unauffällig wie ein Messer. Schwer und klobig sauste die eigentlich so elegante Waffe durch die Luft und bewegte sich nicht so schnell, wie Machairi es wollte. Seine Geschwindigkeit, die Merifas‘ Tränke ihm verliehen hatten, sorgte dafür, dass Kylon der ganze Kampf seltsam langsam vorkam. Das schwarze Mal pochte und war bereit, den anderen Prinzen in die Hallen des dunklen Gottes zu schicken. Doch Zedian kämpfte gut und er war offensichtlich nicht irritiert von der Haptik seiner Waffe. Das Schwert stärkte seine Präzision und schien die Angriffe des Messerdämons manchmal fast von allein zu parieren. Machairi kämpfte schneller als sein Schwert und Zedians Schwert kämpfte schneller als die Hand, die es führte.
Die kämpfenden Prinzen fanden ihren Weg durch die Tempelhalle, wie in einem rasanten, aggressiven Tanz, und immer wieder trafen Schwertklingen ins Nichts, klirrten gegeneinander und verfehlten den Gegner wie durch ein Wunder. Machairis Aufmerksamkeit war eingenommen von diesem Kampf und trotzdem bemerkte er Gwyns bangenden Blick, den erschrockenen Atem des Tempelvaters, wann immer ein Metall zu nah an Stoff vorbeischnitt, und Zedians Wächter, der den Kopf durch die Tür gesteckt hatte, nachdem sein Herr nicht zurückkehrte. Doch die Kämpfenden hielten sich perfekt in Balance. Die letzten Spuren Kylons Magie, schafften keinen Vorteil, den Zedians Magiegespür nicht ausgleichen konnten. Der Vorteil Zedians prachtvoller Waffe wurde durch Ebos‘ dunkle Spuren verwischt, die Cecilias Prinzen die Grenzen des menschlich Möglichen zu überschreiten erlaubten.
Ewig hätten sie ihren tödlichen Tanz fortführen können, ewig wären die tosenden Kräfte ausgeglichen gewesen. Zedian war konzentriert, hätte sich doch vielleicht ein ums andere Mal zurückgehalten, wäre die schillernde Klinge nicht derart angezogen von der Dunkelheit auf der Brust des verlorenen Prinzen gewesen, und Machairi konnte ihm den Kampf nicht schenken. Vielleicht hätten sie einen ewigen Kampf gefochten, zwei Prinzen, von dem keiner dazu bestimmt war, den anderen zu übertrumpfen. Vielleicht hätten sie doch noch eine andere Lösung gefunden. Der Tempel begann zu stöhnen und zu ächzen und Kylons Blut gefror vor alter Angst, als er die Finger des dunklen Gotts spürte. Es war nichts als ein kurzer Augenblick des Zögerns, ein winziger Schreck, als das Ende begann. Das einsetzende Beben zerriss seine Konzentration nur für den Bruchteil eines Augenblicks, doch mehr brauchte es nicht, um das Gleichgewicht zu kippen.
Machairi spürte, dass ihm das Schwert aus den Fingern glitt, anstatt den befohlenen Schlag auszuführen. Er sah, wie Zedian mit fast traurigem Ausdruck zurücktrat und den Griff seiner Waffe losließ, und hörte Gwyns erschrockenen Aufschrei wie einst Ilas … vor unendlich langer Zeit. Taumelnd stolperte er ein paar Schritte zurück, bevor seine Beine den Dienst versagten und er Zedians Bedauern nicht mehr sah. Seine Schultern trafen den Boden und stießen die letzte Luft aus seiner Lunge. Kalter Boden bebte unter ihm und er schmeckte den Staub, der von der Decke rieselte und sich mit dem eisernen Geschmack seines eigenen Blutes vermischte. Der Schmerz ließ sich Zeit, schnitt ihm nur langsam durch die Glieder, breitete dunkle Kälte aus und ließ sich begrüßen wie einen alten Bekannten. Kylon wusste nicht, ob es das gleiche Gefühl war, nur dass es immer dunkler wurde, als er die Müdigkeit endlich zuließ. Ein verschwommener Blick auf das schillernde Schwert, das ihm mitten aus dem dunklen Mal ragte und grauenvoll vertraute Angst waren das letzte, was Machairi wahrnahm, bevor seine vertraute Dunkelheit ihn verschlang.

Ein stechender Schmerz lag auf seiner Brust, der war das erste Gefühl. Der Lärm war verstummt, die Erde bebte nicht mehr. Schwere drückte ihn auf kalten Untergrund und wollte jede Bewegung unmöglich machen. Kylon lag in Dunkelheit und seine Gedanken schwiegen. Sein Körper war schwer und der Schmerz in seiner Brust wollte nicht weichen, drang mit jedem Augenblick tiefer in sein Bewusstsein. Vorsichtig bewegte er die Finger. Keine Handschuhe. Seine Hände lagen nebeneinander auf seinem Bauch. Bewegung war schwierig und doch rieb er langsam den Stoff des Hemdes zwischen den Fingern. Er war hart und rau, stoppte auf der anderen Stoffschicht. Als müsse er neu lernen, wie man sich bewegte, schob er ganz langsam eine Hand unter das Hemd zu der Stelle, an der der Schmerz wohnte. Sogar seine eigenen Fingerspitzen brannten auf seiner Haut. Dann fanden sie die Wölbung eines Geschwürs und Machairi schlug die Augen auf. Das Mal war noch da.
Er blickte direkt unter eine schwarze, grobe Decke. Dunkel ragte sie über ihm auf und langsam ließ er den Kopf zur Seite fallen. Er lag versteckt in einem Spalt, der Raum, der sich jenseits erstreckte, war unmöbliert bis auf einen einsamen Stuhl und mit einem Seufzen schloss Kylon die Augen wieder, als könnte das den Albtraum beenden, in den er zurückgekehrt war. Es war, als hätte er die letzten fünf Jahre nur geträumt. Die Erinnerungen waren da, doch verzerrt und nicht greifbar. Er lag genau an der Stelle, an der er diesen Ort beim ersten Mal verlassen hatte. War er die ganze Zeit hier gewesen? Hatte er diesen Teil von sich immer in der Unterwelt zurückgelassen? Nur langsam begannen die Gedanken wieder zu kreisen, gebremst durch die traurige Schwere von Ebos‘ Reich. Er war zurück. Das Mal war noch da und es fühlte sich nicht anders an als beim letzten Mal. Die Erschöpfung, die ihm die letzten Stunden in der sterblichen Welt zur Qual gemacht hatte, war hier der Normalzustand und so hätte es mehr Überwindung gekostet als er aufbringen konnte, sich aus seinem Versteck zu rollen.
Irgendwo hatte er einen Fehler gemacht. Er war hier. Ila war hier. Keines von Ákardas Kindern würde den Thron besteigen. Ebos war gar der Grund, dass er den Kampf verloren hatte. Warum war das Mal trotzdem noch da? Es lag wie ein heißer Lappen auf seiner Brust, vermischte sich mit dem Schmerz der Wunde, die ihn getötet haben musste. Er glaubte fast, Gwyns unglückliche Stimme zu hören und seine feurige Hektik zu spüren, als er daran dachte, dass er den Feuerspucker besser aus dem Tempel geschickt hätte. Kylon seufzte und hörte das Geräusch in vielen sanften Klangschichten von der nahen Decke zurückgeworfen werden. Wie groß war die Versuchung, hier liegen zu bleiben und sich dem tot sein zu überlassen. Doch der Plan war nicht aufgegangen und der Marsch auf Kefa hatte begonnen. Außerdem schien die erdrückende Stimmung der Unterwelt das Bedürfnis, Leén und Ila zu sehen, noch ganz neu zu befeuern und so gab sich der nun endgültig verlorene Prinz einen Ruck und rollte sich aus dem schmalen Spalt.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Bewegung derart schmerzhaft sein würde. Stöhnend blieb er in der Totenkammer liegen und hatte Glück, dass niemand seinen Todestag auf diesem Stuhl verbringen musste. Strauchelnd und unter Schmerzen kam er auf die Füße. Die Wunde fühlte sich tatsächlich an, als würde sie ihn noch immer langsam töten. Der Schmerz lähmte ihn und Machairi taumelte zur gegenüberliegenden Wand, um sich daran abfangen zu können. Keuchend versuchte er, sich dem Schmerz zu widersetzen. Betrachtete seine farblosen Hände und wartete, dass die Qualen nachließen. Den Gefallen taten sie ihm nicht, doch er richtete sich trotzdem auf. Übermenschliche Selbstbeherrschung, hatte Leén es genannt. Die würde ihm jetzt zur Seite springen müssen. Es war einfacher als erwartet. Tatsächlich schien sogar der Schmerz nachzulassen, je mehr er seinen Körper ignorierte.
Das Herz von Ebos‘ Reich war verworren und im stetigen Wandel. Es hatte Kylon Ewigkeiten gekostet, bis er sich einigermaßen hier ausgekannt hatte. Selbst hier war er nie wie ein normaler Mensch gewesen, hatte den Dämonen nacheifern müssen, ohne einer von ihnen zu sein, bis Ebos wieder genug Kraft fand, um ihm etwas mehr seiner Magie zu rauben. Die Dunkelheit, die an ihrer Stelle gesprossen war, hatte ihm die Unterwelt vertrauter gemacht und das hatten auch fünf Jahre zurück in der sterblichen Welt nicht geändert. Er fand seinen Weg hier noch immer, auch wenn seine Abwesenheit eine vollkommen andere Zeitspanne umfassen mochte. Zeit war ein Konzept, das in der Unterwelt nicht oder anders funktionierte. Es gab keinen Kalender, keine Tage. Die einzigen Anhaltspunkte für die Toten waren die wiederkehrenden Todestage, doch als Orientierung im endlosen Trott der Unterwelt dienten sie nicht. Kylon konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass er die Schrecken der Totenwelt vielleicht zu weit verdrängt hatte. Er würde größere Probleme haben, sie zu überstehen, als er sich eingestehen wollte. Zurück konnte er jedoch ohnehin nicht mehr.
Obwohl er das Bedürfnis hatte, dem Aufeinandertreffen auszuweichen, befand sich Machairi auf den Weg zu Ebos selbst, in der Hoffnung, dort auch Ila oder Leén zu finden. Ilas Magie würde die Seite des dunklen Gottes nicht verlassen haben und abhängig davon, wie viel Durchhaltevermögen seine kleine Schwester bewies … Kylon erstarrte. Er wusste, dass sie da war, bevor er sie sah. Das Schlurfen ihrer Schritte auf dem glatten Steinboden drang ihm durch Mark und Bein und Übelkeit machte sich breit.
Die ausgemergelte Gestalt war noch weiter in sich zusammengefallen als bei ihrem letzten Aufeinandertreffen. Sie löste sich aus der Dunkelheit und schritt um ihn herum. Die furchigen Falten leugneten die Zahl ihrer Lebensjahre und auch sie wurde vom Elend der Unterwelt zerfressen. Doch ihr Blick war nicht leer und gebrochen wie der der anderen Toten. Ihre Augen glühten vor Wut und die vorwurfsvolle Enttäuschung, die darin lag, war noch immer die Gleiche und ließ alles in dem jungen Mann verkrampfen. „Das passiert, wenn Kinder nicht hören wollen“, zischte sie selbstgefällig und ihre Stimme schlang sich um ihn wie das klebrige Netz einer Riesenspinne. „Honoriert man so die Opfer seiner Eltern?“ Ákarda trat noch etwas näher heran und musterte abfällig ihren Sohn, der keinen Muskel regen konnte und selbst von fassungsloser Wut überrollt wurde. „Ich habe dir alles gegeben!“
Kylon hatte die Hände im Stoff seines Hemdes vergraben, bewegte die Finger, doch kein Messer kam, um ihn zu beruhigen. Er konnte nicht atmen, doch auch nicht ersticken. Sein Herzschlag stockte, doch war nichts weiter als die Illusion eines Körpers. Fassungslose Wut und beklemmende Angst durchströmten ihn. Am liebsten wollte er fortlaufen, flüchten, doch er konnte sich nicht bewegen. Schübe von Adrenalin setzten ihn unter Strom und verstärkten den Schmerz in der Brust wieder. Die wahnsinnige Königin verschwamm und er hörte unverständliche Stimmen wie durch fest verstopfte Ohren. Seine Zunge war bleischwer und seine Stimme bebte so sehr, dass nicht einmal die feine Akustik der Unterwelt ihr einen klaren Klang geben konnte. „Du hast mich erstochen“, brachte er hervor und zitterte so sehr, dass er den Stoff kaum festhalten konnte, an dem er sich so verzweifelt festklammerte. Seine Dunkelheit kroch über den Flur, griff nach ihm und schwoll in seiner Brust an. Sie löste die Fesseln und gab der schweren Zunge die Bewegung zurück. „Du hast mir ein Schwert in die Brust gestoßen.“ Endlich tropfte auch von seinen Worten die Abfälligkeit, der Hass, der sich über so viele Jahrzehnte angestaut hatte, die Spuren alten Schmerzes und sie offenbarten die Furchen ihres Verrats.
Sie schlug ihm ins Gesicht. Es prickelte in der ganzen linken Gesichtshälfte und mischte sich mit dem Pulsieren haltloser Wut. „Sprich nicht so mit mir!“, herrschte sie ihn an. „Du hast mir keine Wahl gelassen. Wenn du dir etwas mehr Mühe gegeben hättest, hätten wir seine Hilfe nie gebraucht.“ Er sah seine eigene Sachlichkeit in ihr und das war so unerträglich, dass ihm beinahe die Brust platzte. Hätte man in der Unterwelt tatsächlich ohnmächtig werden können, wäre ihm das Bewusstsein mit Sicherheit entglitten, so sehr wühlte sich das rauschende Chaos durch seine Eingeweide. Ákarda ließ sich nicht davon beeindrucken, nicht von der tobenden Verachtung, die Kylons Gesicht verzerrte, und nicht von der wabernden Dunkelheit, die Machairis Wut beschwor. „Ich habe dir alle Möglichkeiten eröffnet, aber du hast nicht nur versagt, sondern auch noch Jolianda verdammt“, nun schwoll auch ihre Wut an.
Es war ein eigener Fluch, dass Tote nicht sterben konnten. Machairi wollte diese Frau bei lebendigem Leibe aufreißen und möglichst langsam zu Tode quälen. Rachelust brachte seine Haut zum Brennen und die Gewissheit, dass sie ihre Fehler bis heute nicht einsah, nährte sie. Er wollte sie auf Knien um Vergebung betteln sehen, wollte ihr jeden ihrer Fehler vor Augen führen. Immer näher trat er an sie heran. Er hatte keine Worte für sie. Nichts konnte zum Ausdruck bringen, wie sehr sein Innerstes brodelte. Sie war der Kern all seiner Wut, sie war die Wurzel all seines Unglücks. Sie und ihr Machthunger hatten nichts als Verderben gebracht, legten gerade in diesem Moment Kefa in Trümmer und hatten Ila verdammt. Sie.
Und endlich glomm ein Funken Unsicherheit in den toten Augen. Kylon fühlte grausige Genugtuung, als seine Mutter einen Schritt zurückwich und von ihrer eigenen Hilfslosigkeit eingeholt wurde. Sie wollte ein zweites Mal nach ihm schlagen, ihn zurück in Gehorsam zwingen und ihn dazu bringen, nachzugeben. So wie er es immer getan hatte. Als sie ihre wahnsinnigen Rachepläne erdacht, als sie ihn durch tausende Trainings gezwungen hatte, als sie ihm Merifas‘ Tränke aufgenötigt und als sie ihn an Ebos‘ verkauft hatte. Doch Kylon ließ sie nicht. Nicht mehr. Nicht dieses Mal. Er hielt ihre Hand auf und bog sie zurück. Verdrehte den Arm immer weiter und sah fest in die einst blauen Augen. Er drehte weiter, bis der erste Knochen brach und der Frau ein Schmerzenslaut entfuhr und ihm wenigstens einen Funken Genugtuung verschaffte. Doch dann hielt er inne. Er wusste es. Es war nicht seine Schuld. Unter zu vielen Fehlern, die er gemacht hatte, war sein schlimmster nicht seine Schuld. Ilas Fluch war allein die Verantwortung ihrer machtsüchtigen Mutter. Irgendwo unter ihrem Wahnsinn musste auch sie es immer gewusst haben, dass es ihre Schuld war. Doch ihr alle Knochen zu brechen, ihr so viele Schmerzen zuzufügen, wie er irgendwie konnte, würde nichts davon ungeschehen machen, würde ihr keine Einsicht einflößen. Vermutlich würde es nicht einmal dafür sorgen, dass es ihm endlich besser ging. Dahin gab es nur einen Weg und der führte weit, weit weg von seiner Mutter, die diese Bezeichnung nie verdient hatte.
Kylon ließ Ákarda los und stieß sie von sich. Sie hielt ihren Arm und für einen Augenblick funkelten sie einander hasserfüllt an. Dann wandte Kylon sich ab. Er würde sie hinter sich lassen, ihr den Rücken kehren und nie zurückgehen. Sein größter Albtraum war genau da, wo er hingehörte: in den Tiefen der Unterwelt. Er ging. Sie rief ihm etwas nach, doch er blendete es aus, überhörte es absichtlich und konzentrierte sich voll und ganz auf das Geräusch seiner Schritte. Er hatte seine Schwester zu retten.


Mein Laptop ist aus dem Computerkrankenhaus zurück und macht seinen Job hoffentlich ab jetzt wieder richtig gut ohne meine Hände zu verbrennen XD. Momentan fallen mir die Kapitel ziemlich schwer, weil ich so viel Unikram zu tun habe und es echt schwer ist, am Abend umzuschalten. Faktisch bin ich noch nicht absolut zufrieden mit diesem Kapitel und auch meine Betaleserin hatte noch einiges an Kritik. Über nicht alles bin ich mir sicher. Ich möchte besonders, dass er Ákarda noch irgendetwas sagt, aber alles, was ich ihm vorgeschlagen habe, mochte er nicht. Und ich wollte ihn auch nicht zwingen, man muss das ja auch verstehen ... es ist eine schwierige Situation für den armen Kerl XD. Ist euch irgendetwas aufgefallen, was ihr noch anders machen würdet, was ihr uncool fandet, oder was noch mehr Potenzial hätte?

Ja, ich rede über so viele Dinge und ignoriere dabei ganz unauffällig, dass ich tatsächlich meinen Lieblingscharakter in die Unterwelt geschickt habe #heartbroken. Wer hat es gewusst? XD Was glaubt ihr denn, was jetzt noch kommt? Was tut er in Ebos' Hallen? Wer wird Kefas Thron am Ende einnehmen... wird es noch einen Thron von Kefa geben (voll das Game of Thrones hier)? Und wer überlebt den Kampf?

Außerdem: Was glaubt ihr, wer der Charatkere würde den Weg in die Unterwelt finden und wem bliebe dieses Schicksal erspart. Schreibt gerne über alle, die euch so einfallen XD. Gwyn, Vica, Kory, Mico, Lia, Tilo, Mazulis, Kendra, Zedian, Lydisia, Merifas, Leéns Vater, Evima, Melina ... hab ich wen vergessen?