46. Kapitel - Ebos' Macht


Sie war mit grausamen Kopfschmerzen erwacht. Die Farben waren verschwunden und die Erinnerung an grausame Stunden, Tage oder Wochen in den Hallen der Unterwelt waren schrecklich präsent geworden. Lange Zeit hatte sie sich nicht getraut ein Geräusch zu machen, hatte sich nur aufgesetzt, die Arme um den Körper geschlungen und versucht, das Geschehene zu verarbeiten. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie jemand gefunden hatte. Protestlos hatte sie sich mitnehmen lassen und zur eigenen Überraschung festgestellt, dass ihr das Aufstehen und das Laufen gar nicht so schwer fielen. Chaos herrschte in der grauen Stadt, es drang zu ihr durch, obwohl sie die Symptome dessen nicht sah. Es war zu spüren, wie ein penetranter Duft, der in der Luft lag. Das kleine Mädchen, das sie so dringend hatte ablegen wollen, nahm sie wieder ein, als wären ihre mutigen Worte nichts als ein entfernter Traum gewesen. Nun, da mit der Bewegung auch langsam ihre Kopfschmerzen abklangen, spürte sie einen dumpfen Schmerz im Bauch, nicht schlimmer als eine geprellte Rippe, und fühlte die Traurigkeit stärker. Wie lange mochte sie dort gesessen haben, zwischen den Scherben ihrer Existenz, und was war in der Zwischenzeit vor sich gegangen?
Zwei Dämonen flankierten sie. Sie griffen sie nicht an, bedrohten sie nicht und schienen keine Gefahr darzustellen. Sie waren einfach da und zeigten ihr den Weg. Leén fürchtete sie nicht. Sie musste sich zusammenreißen, um überhaupt irgendetwas zu fühlen. Es schien schrecklich verlockend, sich einfach der eintönigen Traurigkeit dieses Ortes hinzugeben, die sie beim letzten Mal mit ihrer ganz eigenen Furcht erfüllt hatte. Nun war ihr so vieles gleichgültig, dass nur die Erinnerung an ihre letzten Minuten, an einen verzweifelten Machairi und die Angst vor dem Sterben sie davon abhielten, sich dem komplett hinzugeben. Sie wusste, wo sie war. Sie erinnerte sich noch an die Bedrohung und an Vicas entstellte Hand. Der Zeitpunkt, sich komplett aufzugeben, war noch nicht gekommen, tot oder nicht. Ein mulmiges Gefühl machte sich in dem toten Götterkind breit, als ihr gewahr wurde, wohin ihr Weg führen würde.
Sie hatte einen schwarzen Thronsaal erwartet, düster, lebendig und bedrohlich wie die Gänge dieser Festung. Sie hatte einen steinernen Sitz vor sich gesehen, der hoch über einer Halle thronte und den sicherlich imposanten Herrn der Unterwelt in ein ehrfurchtgebietendes Ambiente setze. Die Tür, die sich für sie öffnete, gab den Blick auf ein Bild frei, dass sie so nicht erwartet hatte. Der Raum war rund, eine Kuppel, deren Scheitel so hoch über ihr hing, dass ein mehrstöckiges Haus hier Platz gefunden hätte. Vorsichtig trat sie einen Schritt in den Raum, über den Mosaikboden, der ein kunstvolles Mandala zeigte, und konnte ihre Überraschung nicht verbergen. Er saß tatsächlich in einem Sitz, doch es handelte sich mehr um einen Sessel als um einen Thron. Ein langer, niedriger Ebenholztisch stand davor und ähnlich elegante dunkle Kanapees standen an den langen Seiten. Hinter dem Sesselthron erhob sich ein gewaltiger, freistehender Kamin und eine rundliche Bücherwand verkleinerte den Raum unter der Kuppel. Es sah aus wie ein sehr geschmackvolles Wohnzimmer, eingerichtet in vielen Schwarz-, Weiß- und Brauntönen, durchsetzt von kleinen, blutroten Elementen. Rot, tatsächlich rot, denn der Raum um Ebos herum war nicht von der Farblosigkeit der Unterwelt betroffen. Nur langsam schienen die Farben zu verblassen, bis das Mosaik vor Leéns Füßen keine Farbe mehr hatte. Der Mann, der inmitten dieses eleganten Raumes saß, sah nicht aus wie ein blutrünstiges Monster, nicht wie ein ruchloser Mörder, trug kein schadenfrohes Grinsen zur Schau. Zwar hatte Ebos eine unglaubliche Eminenz und Leén konnte nicht verhindern, dass er sie einschüchterte, aber direkt furchteinflößend war er nicht. Gruselig war höchstens, dass sie keine festen Züge ausmachen konnte. Jedes Mal, wenn sie ein Detail genauer betrachten wollte, schien es sich bereits verändert zu haben. Langsam aber stetig schien sich sein ganzes Aussehen zu verändern und gab ihm tausende Gesichter.
„Großnichte“, begrüßte er sie freundlich und seine Stimmte hallte gewaltig sanft und freundlich hart von der Kuppel wider und vereinnahmte das Mädchen mit jeder Faser. „Es ist gleichsam schön und bedauerlich, dich wieder hier zu sehen.“
Leén fror unter der Stimme ihres Großonkels. Sie fühlte sich noch haltloser unterlegen, als es sonst vor Machairi der Fall war und sie hätte sich gerne irgendwo versteckt. Leider war das keine Option und sie würde keinen Ausweg aus dieser Situation finden. Im Grunde, versuchte sie sich zu überzeugen, kann ich ohnehin nicht mehr sterben. Das minderte die Angst allerdings nur wenig. Trotzdem straffte sie die Schultern und versuchte, kontrolliert und stark zu wirken. Sie brauchte Machairis Sachlichkeit und vielleicht ein bisschen von Vicas scharfer Zunge. „Kann nicht sehr überraschend sein, nachdem Ihr mich habt töten lassen.“ Dafür, dass ihr Innerstes sich wand vor Furcht, brachte sie ihre Worte erstaunlich kontrolliert hervor.
„Unsinn“, Ebos winkte ab. „Ich habe dich nicht töten lassen. Das hat die Wahnsinnige selbst verbrochen. Ich habe ihr diesen ungehorsamen Prinzen erlaubt, nicht meine einzige unschuldige Verwandte.“ Er warf einen scheinbar vielsagenden Blick zu den Dämonen, die Leén noch immer flankierten, denn sie sanken in die Schatten und waren verschwunden. Leén schüttelte sich unwillkürlich, als sich ihre Nackenhaare unter der lautlosen Bewegung der Schattenwesen sträubten. „Doch so entfalten sich die Dinge auf ihre eigene Art. Setz dich.“ Der Gott sprach ohne jede Eindringlichkeit, ohne Nachdruck. Er gab sich offensichtlich keine Mühe, bedrohlich zu sein, und trotzdem hätte Leén keinen Widerspruch gewagt, egal wie wenig sie sich an diesen Tisch setzen wollte.
Ihre Knie zitterten, als sie sich dem Tisch näherte und langsam in die Farben trat. Bald konnte sie das Braun ihrer bebenden Finger wiedererkennen und die weißen Blusenärmel. Sie kannte die Kleider, die sie trug, nicht. Zuvor hatte sie sie als grau wahrgenommen, doch es waren eine weiße Bluse und eine schwarze Hose über einem Paar schwarzer Halbschuhe. Um sich selbst vom Zittern abzuhalten, griff Leén nach ihren Ellenbogen und ließ sich langsam in den Sessel sinken, den der Gott ihr gewiesen hatte. Das Leder war so Dunkelrot, dass es beinahe schwarz war. Gab es etwas, was sie tun konnte … tun musste? Unsicher betrachtete die ihren Großonkel, wandte jedoch eilig den Blick ab, als Ebos ihn erwiderte. Es war seltsam, inmitten eines Farbklekses in einer sonst farblosen Welt zu sitzen. Sie spürte, dass er sie musterte, bemerkte den Blick der sich wandelnden Augen und grub die Finger etwas fester in ihre Arme.
Der Herr der Unterwelt schwieg. Es war Leén, als warte er auf etwas und mit jedem Augenblick, der in der ungreifbaren Ewigkeit der Unterwelt verrann, wurde das Götterkind etwas unruhiger. Sie wusste nicht, was er von ihr erwartete, und selbst nicht, was sie wollte. Noch tat sie sich schwer zu begreifen, dass diese dunklen Hallen ihre Ewigkeit werden würden, und so hatte sie keinen Gedanken dafür, wie sie mit dieser Ewigkeit verfahren wollte. Je länger sie hier saß und die Angst aushielt, desto bewusster wurde ihr die Umgebung. Sie spürte Magie. Magie, die nichts mit der Dunkelheit der Unterwelt gemein hatte, und die eindrucksvolle Präsenz ihres Großonkels. Konnten sie das Gleiche sein? Leén sah in ihren Schoß hinab und versuchte, ihre Gedanken in Ordnung zu beginnen, doch die Schwere der Unterwelt machte klares Denken schwierig und kein Gedanke schien lange genug zu bleiben, um ihn zu Ende zu führen.
Ein Zittern des Bodens und ein entferntes Rumpeln brachten Leén zum Zucken und sie sah reflexartig auf, um nach der Ursache des Lärms zu suchen. Damit brach der alte Gott das Schweigen. „Es macht den Anschein, als hätte das Warten bald ein Ende. Damit ist dies der Zeitpunkt, um die Fragen zu stellen, für die du hergekommen bist.“
Wieder zuckte ihr Blick zu ihm und für einen Augenblick sah sie in die fließenden Gesichtszüge, sah der Nase dabei zu, wie sie größer wurde und wie seine Augen schrumpften, und riss sich los, als ihr davon der Atem stockte. „Ich bin nicht freiwillig hergekommen“, krächzte sie und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Das lag dieses Mal allerdings nicht an der Akustik der Unterwelt, sondern an ihrer zugeschnürten Kehle.
„Bist du sicher? Die Unterwelt konnte dich schon beim letzten Mal nicht halten. Denkst du, etwas Gift könnte das ändern? Nein. Du bist hier, weil du herkommen wolltest, ob es dir bewusst ist oder nicht.“ Sie hatte sich an Machairis unglaubliche Stimme gewöhnt, bis sie sie nur noch selten aus dem Konzept gebracht hatte. Ebos‘ Stimmgewalt bewegte sich nochmal auf einem ganz anderen Niveau, doch auch ohne diesen Klang hätten die Worte des Gottes Leén totes Herz zum Stocken gebracht.
Er log. Er musste lügen. Warum sollte sie herkommen wollen, an den schlimmsten aller Orte? Vicas dunkles Gift hatte sie her gezwungen, hatte sie es nicht gespürt? Warum fühlte sie sich dennoch ertappt? Gab es einen furchtbareren Ort als diesen? Sie schluckte schwer. Es half nicht gegen die Heiserkeit. „Warum sollte ich herkommen wollen?“
„Du weißt genau, wer seinen Weg herfinden wird und wo die Antworten auf deine Fragen liegen.“ Die Finger seiner Hand wurden schlanker und dunkler, während er ihr ein Messer hinschob, als wäre das tatsächlich notwendig, um seinen Punkt zu unterstreichen. Leén starrte auf die blanke Klinge. Auf den ersten Blick hätte es eines von Machairis Messern sein können, doch sie hatte lange genug eines davon besessen, um zu wissen, dass diese Waffe mehr Verzierungen trug und vielleicht etwas größer war als die Messer, die der verlorene Prinz mit sich führte. „Ursprünglich wollte ich dir und deinem Vater als Dank für seine Unterstützung einen Platz an meiner Seite anbieten, sobald mein arroganter Bruder seine Lektion gelernt hat, aber ich würde dir auch die Unterwelt überlassen.“
Skeptisch musterte sie ihren Großonkel. Was für ein Spiel spielte er mit ihr? Hatte er ihr gerade tatsächlich den Thron der Unterwelt angeboten? Ging er davon aus, dass sie dieses wahnsinnige Angebot annehmen würde? Sie würde nicht werden wie er. War nicht offensichtlich, wie sehr sie diesen Ort hasste? Vielleicht würde sie sich überzeugen lassen, dass sie unterbewusst so sehr davon ausgegangen war, dass sie hier weiterkommen würde, Machairi wiedersehen konnte und sich nicht in gänzlich unbekanntes Terrain vorwagen musste, dass sie tatsächlich hergekommen war. Doch sie würde sich nicht dazu überreden lassen, die Unterwelt zu übernehmen. Sie mochte viele dumme Fehler machen, noch immer naiver sein, als ihr guttat, und sich mit zu viel Bereitwilligkeit in Gefahren stürzen, aber sie war nicht grausam genug, um die Toten zu quälen. Ebenso wenig wollte sie einen Platz an seiner Seite. Erst jetzt stolperte sie über den ersten Teil seines seltsamen Angebotes und ihre Augenbrauen kräuselten sich vor Wut. „Mein Vater ist nicht auf Eurer Seite.“ Ihre Stimme bebte, aber ihre Heiserkeit schwand und gab der unnatürlichen Melodie der Unterwelt Platz.
Der dunkle Gott – der dieser Bezeichnung, mitten in den Farben seines Sessels sitzend, nicht gerecht wurde – seufzte leise. „Viele Jahrhunderte mag das wahr gewesen sein. Aber späte Einsicht ist doch besser als keine. Vor kurzem scheint ihm endlich klargeworden zu sein, dass sein Vater immer schon der war, der uns Unrecht getan hat.“
Leén mochte zuletzt nicht gut auf ihren Vater zu sprechen gewesen sein. Sie hatten gestritten und sich entfernt, aber sie wollte nicht glauben, dass er sich hinter Ebos‘ Grausamkeit gestellt hatte, hinter die Zerstörung, die er bringen wollte, und das Leid, das er bereits verursacht hatte. Nur welchen Grund hatte der Herr der Unterwelt, sie anzulügen? Es gab nichts mehr von ihr zu gewinnen und bisher hatte sie nicht bemerkt, dass er versuchte, sie in eine Richtung zu drängen und sie zu manipulieren. Das musste keine guten Intentionen bedeuten, aber es warf immerhin die furchtbare Möglichkeit auf, dass ihr Vater übergelaufen sein könnte. War es möglich, dass Jico vorgab, seinen Onkel zu unterstützen, um Schlimmeres zu verhindern? Das wäre die harmloseste Erklärung gewesen, aber es klang nicht nach ihrem Vater. Leén griff nach ihrem Zopf, fand jedoch nur offene Strähnen und zupfte stattdessen an den Haarspitzen. „Ich glaube Euch nicht“, brachte sie schließlich möglichst ruhig hervor. Sie bemühte sich, ihre Zweifel zu verbergen, aber Machairi hatte ihr immer wieder deutlich gemacht, dass sie nicht gut darin war. Also sah sie ihren Großonkel nicht an und griff stattdessen nach dem Messer auf dem Tisch. Es schmiegte sich gut in die Hand und gab ihr ein Gefühl von Stärke, das sie nicht erwartet hatte.
Nun sah sie ihren Großonkel doch direkt an und konnte zusehen, wie sich seine formlosen Lippen zu einem Schmunzeln verzogen. „Du kannst selbst zusehen.“ Er gab einen Wink auf die Decke und der dunkle Stein der Kuppel über ihnen wurde zu einem milchigen Grau. Es dauerte einen Augenblick, bis Leén die Tempelhalle in Kefa erkannte und Galva, der allein dort stand und einen Kasten in der Hand hielt. „Und ich kenne noch jemanden, der zusehen sollte.“
Leén sprang aus ihrem Sessel auf, als sich die Bücherregale bewegten. Sie versanken im Boden, ohne Spuren zu hinterlassen. Nicht einmal Fugen waren zu erkennen. Auch der Ebenholztisch verschwand, als hätte es ihn nie gegeben und die Sessel bis auf den, auf dem der Gott persönlich saß. So gaben die gemütlichen Raumtrenner den Blick auf den Rest des Kuppelraums frei. Ein erschrockenes Quietschen entrang sich Leén und entsetzt starrte sie auf die Gestalt, die zwischen zwei schwarzen Pfeilern kniete, die beide Arme weit ausgestreckt fixierten. Ilas Haare hingen in wirren Strähnen in ihr Gesicht und sie hatte den Kopf hängen lassen. Erst bei Leéns vielschichtig widerhallendem Quietschen sah sie auf. Entsetzt starrte Leén zurück und stolperte einen Schritt näher heran. Das Gesicht der alten Dame war eingefallen und von Schmerz verzerrt. Sie sah furchtbar traurig und ebenfalls erschrocken aus, Leén hier zu sehen. Der Anblick war unerträglich. Wie konnte irgendjemand der liebevollen, zuvorkommenden Frau etwas Derartiges antun? „Lasst sie gehen!“ Bevor sie darüber nachdenken konnte, ob das eine gute Idee war, hatte sie sich zu dem Gott gedreht und richtete die Waffe auf ihn, mit der sie nur sehr unzulänglich umgehen konnte. „Sie hat das nicht verdient!“
„Nein, wahrlich nicht“, stimmte Ebos ruhig zu und war (zu Recht) vollkommen unbeeindruckt von der Messerspitze. Konnte man einen Gott in der Unterwelt überhaupt töten? Konnte man irgendjemanden in der Unterwelt töten? Was geschah dann? Und wieso stimmte er ihr zu? „Die Verbrechen meines Bruders fordern ihren Tribut und haben mich über die Jahrhunderte zu dem Bösewicht vieler Geschichten gemacht. Vielleicht tröstet es dich, dass dies die Letzte ist.“ Er würdigte Ila keines Blickes und deutete stattdessen auf ein schillerndes Gefäß auf einem Podest direkt neben ihr. Die Vase war kunstvoll geschwungen und schillerte in einem seichten Blaugrün. Sie zog sogar ihren eigenen kleinen Farbkreis, wie er auch um den Gott herum pulsierte. „Sobald es voll ist, ist alles vorbei. Ob das früh genug für ihn ist, ist eine andere Frage.“ Seelenruhig lehnte er sich in seinem Sessel zurück und betrachtete das Bild an der Decke. Böses befürchtend folgte Leén seinem Blick und biss sich fest auf die Lippe, als sie Machairi und Gwyn erkannte. Sie sprachen miteinander und Gwyn hielt eines der Messer in der Hand. Hören konnte man sie nicht, aber der Anblick allein machte Leéns Herz schwer von Traurigkeit. Machairi sah verändert aus, verletzbarer irgendwie, nicht länger geschützt von dem schweren Mantel oder der Mauer aus Neutralität. Der Gedanke, dass sie daran vermutlich nicht unbeteiligt war, schmerzte. „Der Plan war nicht einmal schlecht, aber das war zu erwarten.“
Auch Ila sah zur Decke empor und gab ein ersticktes Wimmern von sich, als sie ihren unnatürlich jungen Bruder erblickte. Leén konnte nicht behaupten, dass sie den Plan verstand, aber sie ging nicht davon aus, dass er ihr gefallen hätte. Hilflos stand sie unter der Kuppel in der Unterwelt und wusste, dass Ebos dabei war zu gewinnen. Sie spielten die letzte Runde und Ebos hatte die besten Karten auf der Hand und kannte vermutlich das Blatt aller anderen. Was konnte sie tun? Ihr Blick fiel auf das Gefäß. Konnte sie es vielleicht zerstören? Wenn sie auch nur halb so gut hätte werfen können wie Machairi, hätte sie es vielleicht einfach versucht und das verzierte Messer auf die Vase geworfen. Doch sie befürchtete, dass Ebos nur darauf wartete, nachdem er ihr die Waffe derart in die Hand gegeben hatte – ganz davon abgesehen, dass sie nicht getroffen hätte. Sie konnte natürlich versuchen, hinüber zu laufen und das Messer in das Gefäß zu stoßen, aber auch das barg Risiken. Das hauptsächliche Problem war, dass sie nicht wusste, was Ebos vorhatte und kein Machairi hier war, um die Situation zu erfassen.
Der Gott der Unterwelt sah kurz zu den beiden Frauen und schmunzelte erneut hörbar. „Nicht doch, der raffinierte Teil kommt erst noch.“ Und als hätte er auf das Kommando des dunklen Herrschers gewartet, betrat Zedian den Tempel.
„Oh nein“, hauchte Ila, die Stimme ebenso gequält wie ihr ausgemergelter Körper. „Nicht“, flüsterte sie. „Bitte nicht“, wisperte sie immer wieder und die ihre Augen füllten sich mit Tränen. Der Anblick zog alles in Leén zusammen, auch wenn sie weiterhin nicht verstand, was dort oben vorging. Die Verzweiflung der wunderbaren Frau erweckte die schlimmsten Befürchtungen und als Machairi schließlich die Messer ablegte, bahnte sich auch in dem Götterkind eine böse Ahnung den Weg. Gebannt beobachtete sie, wie Zedian ein Schwert nahm, Machairi eines reichte und noch einige Worte gewechselt wurden. Es klopfte in ihren Ohren und der Herzschlag, den sie eigentlich nicht mehr haben konnte, beschleunigte sich fast schmerzhaft. Er hatte ihr beim Sterben zugesehen, sie wollte nicht das Gleiche erleben. Ilas Wimmern sprach ihr aus der Seele, während sie nichts tun konnte, als hilflos hier zu stehen.
Ebos erhob sich aus seinem Sessel, der spurlos verschwand, und schritt durch die Halle. Die Farben nahm er mit. „Wenn du jetzt aufgibst, merkt er es vielleicht noch rechtzeitig. Ist das vielleicht Ansporn genug?“ Er streckte die Hand aus, richtete sie auf Ila und es sah aus, als ziehe er mit jedem Finger an etwas Unsichtbaren. Die alte Frau gab einen Schmerzenslaut von sich, wand sich in ihren Fesseln und kniff die Augen zusammen. Ihre Brust wurde nach vorn gezogen und sie zitterte am ganzen Körper. Leén wusste indes nicht, welchem Grauen sie zuerst ihre Aufmerksamkeit schenken sollte. Machairi und der harethsche Prinz drehten sich in einem atemberaubend schnellen Kampf durch den Tempel, während Ila ihren eigenen unsichtbaren Kampf geben Ebos focht. Hilflos sah sie hin und her, konnte beiden nicht helfen und machte dennoch einen Schritt vor, um es zu versuchen. Doch gerade als sie überlegte, Ebos einfach fachmännisch zu schubsen, sei es nur, um ihn abzulenken, löste sich ein feiner schillernder Faden aus Ilas Brust. Ein kleines Knäul wickelte sich daraus, feiner als der Samen eines Löwenzahns. Ebos leitete ihn in die Vase und das Gefäß schien etwas heller zu scheinen. Ila sank keuchend in sich zusammen, soweit ihre Arme es zuließen, und Ebos strich andächtig über das Podest.
Leén eilte zu Ila, um zu sehen, ob sie irgendetwas für die alte Prinzessin tun konnte, und hockte sich vor ihr auf den Boden. „Kann ich dir helfen?“, flüsterte sie leise und strich die wirren Haare aus ihrem Gesicht.
Ila sah auf. Ihre müden Augen schwammen von Tränen und ihre Lippen bebten. Es kostete sie mehrere Anläufe, bis sie ein kaum hörbares Wort hervorbrachte. „Geh“, hauchte Ila. „Geh zu den Göttern.“
Leén wusste nicht, ob und wie sie das tun sollte, aber sie wollte ganz sicher nicht ohne Ila gehen. „Nicht ohne dich“, flüsterte sie deshalb zurück. Sie würde die liebenswerte Frau nicht hier zurücklassen und fliehen, besonders wenn ihre Magie der Schlüssel war. Das war überhaupt die einzig sinnvolle Lösung. Sie musste Ila befreien und zu den anderen Göttern bringen, so wie es einst Machairis Plan gewesen war, damit Ebos ihr nicht noch mehr von ihrer Kraft rauben konnte. Bevor sie jedoch auch nur anfangen konnte, sich an den Fesseln zu schaffen zu machen, die ihre Mentorin in ihrer hilflosen Position hielten, ergriff Ebos erneut das Wort.
„Für den Anfang könnte es reichen“, kommentierte er seine Inspektion des leuchtenden Gefäßes und legte eine Hand an die Seite der Vase. Ein gleißend helles Licht schoss daraus empor, formte eine Säule, die bald gegen das Kuppeldach traf, und ein ohrenbetäubendes Quietschen drang durch die feinen Klänge der Unterwelt. Ein leichtes Beben folgte und dann trat der Gott der Unterwelt einen Schritt zurück und schüttelte die Hand aus, als habe er sich an der ausbrechenden Magie verbrannt. Ila hatte den Blick wieder resigniert zu Boden gerichtet, aber Leén betrachtete das grausige Bild auf dem Kuppeldach. Sie sah wie die sterbliche Welt von einem Erdbeben erschüttert wurde, und hörte sich selbst schrill schreien, als Zedians Schwert in Machairis Brust versank. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie zu, wie er fiel und sein Blut sich über den Boden ausbreitete. Ihr eigener Atem stockte und wieder war sie hilflos. Sie sah ihn sterben, sah Gwyn an seine Seite kriechen und das aufgewühlte Feuer in der Brust des Zhaki glimmen. So furchtbar der Anblick war, so sehr er ihr die Tränen in die Augen trieb, konnte sie doch nicht wegsehen, als würde sie seinen Tod endgültig machen, sobald sie den Blick abwandte.
So sah Leén ihren Vater. Sah, wie er hinzutrat und die Hände ausstreckte, wie sich ein goldener Schein darum sammelte und den Körper am Leben hielt. Sie schniefte. Hieß das, dass es noch Hoffnung gab? Hieß das, dass Ebos sich getäuscht hatte und ihr Vater das Leben des rechtmäßigen Thronfolgers erhielt? Aber war es nicht wahrscheinlicher, dass Machairi diesen Kampf eingegangen war, um zu sterben? Das mochte ihr wie eine Katastrophe vorkommen, aber er hatte sicher seine Gründe. Sie sah zu Ebos, um bei ihm eine Antwort zu finden.
Der fing ihren Blick auf, wie sie dort neben der zusammengesunkenen Ila hockte, und seufzte vernehmlich. „Ja, er muss weiterleben. Wenigstens noch ein bisschen. Aber keine Sorge, er ist bereits tot genug für ein Widersehen.“
Leén kam auf die Füße. Sie wollte nicht hilflos am Boden sitzen. Stattdessen stellte sie sich schützend vor Ila und machte sich groß. „Warum braucht Ihr ihn lebend?“ Noch hatte sie Hoffnung, dass ihr Vater doch noch auf der richtigen Seite stand und Ebos sie nur zu verunsichern suchte. Das Orakel hatte damals schließlich etwas über Zylons Kinder gesagt. Vielleicht versuchte er, ihren Vater oder gar sie zu manipulieren.
Der Herr der Unterwelt setzte sich und ein neuer Sessel erschien unter ihm. Ruhig lehnte er sich zurück und betrachtete die Prinzessin und seine Großnichte. „Wirklich, es besteht keine Notwendigkeit zur Förmlichkeit. Wir sind Familie.“ Er legte die Hände aneinander, die gerade sehr viel breiter und klobiger wurden. „Ich stehe zu meinem Wort. Die Königin hat einen Handel mit mir abgeschlossen und ich habe meinen Teil erfüllt, obwohl ich hintergangen worden bin.“ Er deutete erneut auf die Decke und dieses Mal zögerte Leén nicht lange, bevor sie hinsah. Sie erkannte das Haus in den Bergen und das Grab, dessen Türe offenstand. Es war Nacht. Ein heller Mond schien auf die grünen Wiesen hinab und in einem Kreis aus kleinen Kieseln standen ein Mann in einer Magierrobe, eine Frau in einem unpassend edlen Samtkleid und ein Junge mit schwarzem Haar. Kylon sah krank aus. Er hielt sich nur mühsam auf den Beinen und das junge Gesicht war gezeichnet von den endlosen Monaten voller Qualen. „Der Stümper hat viel zu viel Aufwand betrieben. Als müsste ich beschworen werden wie irgendein Dämon“, ärgerlich schnalzte er mit der Zunge. „Angehört habe ich sie trotzdem, weil sie etwas hatte, was ich brauche.“ An der Decke erschien eine Gestalt, kaum mehr als eine Rauchwolke, und die drei Menschen knieten nieder. Doch Leén sah auch das kleine Mädchen auf dem Dach des Hauses, das im Verborgenen zusah. „Es war ein simpler Handel: So viel wie nötig der Magie ihres Mannes im Austausch gegen den Thron für eines ihrer Kinder. Simpel und fair. Den Jungen hatte sie ohnehin so gut wie getötet und nach ein paar Tagen hätte ich eine ordentliche Anzahlung erhalten, wenn nicht gar genug. Ich habe dem Mädchen sogar das Mal erlassen, solange ich den Bruder hatte. Aber statt zu warten“ – Leén sah der stummen Szene zu und beobachtete, wie Kylon zusammenfuhr und sich mühsam aufrappelte, nachdem seine Mutter ihr Angebot unterbreitete – „wollte sie die Dinge sofort in Gang bringen.“ Der Magier hielt den geschwächten Jungen auf und zwang ihn zurück in die Knie, während die Frau ein Schwert, scheinbar aus dem Nichts zog. „Ich gab ihr die Dämonenklinge, um sein Ziel zu sichern, aber geführt hat sie es nach ihrem Willen.“ Leén sah Kylons kurzen Blick über die Schulter, wie er zielsicher seine Schwester auf dem Dach fand, und das Zucken des Fünfzehnjährigen als seine Mutter ihm die schwarze Klinge in die Brust stieß. Zum zweiten Mal heute sah Leén Machairi beim Sterben zu.
Auch Ila zuckte zusammen, als sie ihre vielleicht schlimmste Erinnerung zum zweiten Mal geschehen sah. Sie krümmte sich zusammen, als foltere sie erneut jemand, und ein Laut, der ein Wimmern oder ein Schluchzen sein mochte, entrang sich der gequälten Frau. Leéns Wangen waren tränenüberströmt und ihre Hände bebten.
„Und dann hat sie ihn nicht sterben lassen“, fuhr Ebos fort. Er klang bitter und wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie geglaubt, dass er ebenfalls traurig über das Verbrechen war, das sich über ihren Köpfen abspielte. „Sie hat wenige Augenblicke vor dem Tod den Prozess gestoppt und weiteren Schaden verhindert. Als er es Jahrzehnte später bemerkt hat, konnte er die Klinge herausziehen und warten, bis Merifas‘ elende Gebräue ihren Dienst getan und ihn genug regeneriert hatten, um zu überleben. Was blieb mir also anderes übrig, als auch das Mädchen zu zeichnen und mir das erste Kind zu nehmen, das starb?“ Verteidigte sich der Gott der Unterwelt etwa für die Gräueltaten, die Ila und Machairi hatten durchleben müssen?
Leén sah zu Boden, als das Fenster zur Vergangenheit sich schloss. Sie fühlte sich taub, weit über die Melancholie der Unterwelt hinaus. So war er also entkommen. Nun wusste sie, welche Rolle Merifas gespielt hatte, wie es zu all dem gekommen war und auch, warum er nicht darüber hatte reden wollen. Es war keine Erleichterung, endlich alles zu verstehen. Es war eine furchtbare Last und sie wollte die Bilder für immer aus ihrem Kopf verbannen. Sie schluckte. Vielleicht war die Betretenheit ihres Großonkels tatsächlich echt? Sie musterte ihn aus dem Augenwinkel. Er sah zumindest nicht glücklich oder zufrieden aus, soweit die fluiden Züge solche Schlüsse zuließen. Vielleicht konnte man ihn doch erreichen. „Ihr …“ Sie riss sich zusammen und zwang sich, die Anrede abzulegen, auch wenn sie diesen Gott nicht als ihre Familie sehen wollte. „Du könntest einfach aufhören“, flüsterte sie. „Du kannst sie einfach gehen lassen und die Abmachung von beiden Seiten nicht erfüllen.“
„Ich brauche Zylons Magie, um die Unterwelt zu verlassen“, knurrte der Gott und war ganz sicher nicht zufrieden mit sich.
„Warum musst du die Unterwelt verlassen?“, warf Leén vorsichtig ein. „Ist der Gott der Dunkelheit nicht hier zu Hause?“
Sie hatte das Falsche gesagt. Der Mann sprang aus seinem Sessel auf und wurde rot vor Wut unter all seinen Hautfarben. „Ich bin nicht der Gott der Dunkelheit!“, stieß er hervor und die Wut brachte die gewaltige Stimme zum Beben, dass die Wände einstimmten und Leén von Furcht überrollt wurde. „Ich bin der Gott des Charakters! Ich bin der Gott aller Stärken und Schwächen, der Züge, die alles zusammenhalten und die Persönlichkeit prägen. Machen die Menschen mich verantwortlich für ihre Schwächen und Fehler? Jeden Tag. Danken sie mir, für ihre Stärken? Nein, die halten sie für selbstverständlich. Ich bin nicht hier, Großnichte, weil ich das Böse bin. Ich bin hier, weil mein Bruder ein lügender Narzisst ist.“ Er donnerte durch das Gewölbe und Leén zog den Kopf ein, machte sich klein unter seinem Wutausbruch. Der Unmut eines echten Gottes zwang sie in die Knie, zerrte an den Grundfesten ihrer Seele. Sie wollte davonlaufen, sich verstecken und nicht wahrhaben, wie sehr sie erzitterte. Das Bedürfnis, sich zu entschuldigen, nahm sie ein und sie wollte ihre Worte rückgängig machen, egal wie sehr sie sie gemeint hatte. Doch Ebos hatte mehr zu sagen und seine Wut klang nicht ab. „Mein Bruder hat mich zum Inbegriff des Bösen gemacht und mir keine Wahl gelassen, als mich in dieses melancholische Loch zurückzuziehen, während die Menschen mich zu dem Monster gemacht haben, das er kreiert hat. Jahrhunderte habe ich diese Schmach hingenommen, mich mit dem abgegeben, was mir zur Verfügung stand, nur um meinen Bruder für seine Fehler zur Rechenschaft zu ziehen. Er hat mit Dingen gespielt, in die sich niemand hätte einmischen sollen. Er hat die Menschen nicht geschaffen: Er hat sie ruiniert. Magie in eine perfekt ausbalancierte Welt zu setzen, um zu schauen, was passiert, war sein Projekt. Weißt du, wie begeistert er war, als sie anfingen, sich gegenseitig umzubringen, weil sie seine Kräfte nicht verstanden? Er lässt sich als hütenden Gott feiern und hat ihnen doch von Anfang an nichts als Lügen erzählt, die sie ihren Kindern noch heute beibringen.
Ich hingegen, ich habe ihm von Anfang an gesagt, dass er einen Fehler macht, aber hat er auf mich gehört? Nein! Er hat sich lieber weiter in Dinge eingemischt, die nicht seiner Aufmerksamkeit bedurften, und er hat sie jedes Mal schlimmer zurückgelassen, als er sie vorgefunden hat. Und als ich versucht habe, seine Fehler zu korrigieren, Pyria von dem Fluch zu befreien, den er der Welt auferlegt hatte, hat er mich ausgesperrt und einen Krieg auf dem Rücken seiner kleinen Menschen angezettelt.“
Der Gott des Charakters blieb direkt vor Leén stehen und ließ sie an ihrem Verstand zweifeln. Doch er griff nach ihrem Oberarm und zog sie auf die Füße. „Dieser Ort brauchte nie einen König“, raunte er leiser in ihr Ohr und brachte ihre Knie erneut gefährlich zum Zittern. „Ich habe mich dennoch mit jenen abgegeben, für die mein Bruder keine Verwendung hatte, habe Gefallen gewährt und niemals über meinen Preis gelogen.“ Er deutete auf die angekettete Ila. „Keine falschen Versprechungen, keine Alternativlosigkeit und selten Wortklauberei. Diese Leben, die man mir vorwirft, ruiniert zu haben, haben die Menschen selbst zerstört. Ich bin gerecht. Ich halte die Balance, die mein Bruder zerstört hat. Sobald die Welt frei von ihm ist, ist sie frei von mir.“
„Dann ist jetzt ein guter Zeitpunkt für einen letzten Handel.“ Machairis Melodie war so viel sanfter als Ebos‘ erschlagendes Donnern. Sie ließ Leéns Herz flattern und brachte Ebos dazu, ihren Arm loszulassen. Sie strauchelte zwei Schritte zur Seite und drehte sich dann zu dem Prinzen um, der den Raum betreten hatte. Er sah verändert aus ohne Waffen, Handschuhe oder Mantel. Die Kleider waren einfach, die eines Toten in der Unterwelt. Ein weites, knopfloses Hemd, eine schlichte Hose, simple Schuhe. Trotzdem hatte er den Esprit des Messerdämons nicht verloren, auch wenn sie zu sehen glaubte, dass die stolze und elegante Haltung ihm mehr abverlangte als sonst.
Ebos drehte sich langsam zu dem Neuankömmling um und musterte ihn eindringlich. Für einen Augenblick hielt Machairi den Blick des Herrn der Unterwelt, ohne die übliche Sachlichkeit zu verlieren. Und dann verneigte er sich. Leéns Kinnlade fiel herunter. Er konnte selbst das mit Eleganz, aber es war dennoch völlig undenkbar. Doch es zeigte Wirkung.
„Ich bin ganz Ohr.“ Ebos labte sich an seiner Überlegenheit.
Machairi machte sich wieder gerade. „Ich gebe Euch den letzten Rest, damit Ihr den Weg zu Zylon finden und Euch aus Pyria zurückziehen könnt, wie Ihr es geplant habt.“ Leén blinzelte und auch Ila hob überrascht den Kopf.
Selbst Ebos runzelte die Stirn. Es war seltsam anzusehen, wenn sich dabei seine Gesichtszüge veränderten. „Und im Gegenzug?“
„Im Gegenzug beendet Ihr den Angriff auf die sterbliche Welt, ruft die Monster zurück und fügt den Menschen keinen weiteren Schaden zu … einschließlich meiner Schwester und Leén.“ Kurz zuckten die schwarzen Augen zu ihr und etwas länger zu der gequälten Ila, bevor er den Gott wieder ansah.
„Warum einen Handel abschließen für etwas, was ich mir einfach nehmen kann?“ Interessiert machte Ebos noch einen Schritt vor und ließ die Frauen hinter sich. Leén sah zu Ila und machte ganz leise und langsam einen Schritt auf sie zu.
„Wie lange würde das dauern? Ewig kann Jico mich nicht am Leben halten. Wir müssen lediglich länger durchhalten als er und der ganze Plan wird hinfällig.“ Seine Sachlichkeit war noch immer beeindruckend, auch wenn sie inzwischen dahinter blicken und die Sorge sehen konnte. Doch sogar Ebos zeigte mehr Regungen.
„Warum dann ein Handel, wenn es nur etwas Beherrschung kostet, das alte Ziel zu erreichen?“ Ja, das war die spannende Frage. Schön, dass sie nicht die einzige war, die diesen Plan nicht verstand.
Machairi ließ einen Augenblick des Schweigens vergehen, als müsse er darüber nachdenken, aber Leén war sich sicher, dass ihm die Antwort bereits auf der Zunge lag. „Ich denke, dass Ihr recht habt und Pyria ohne den Einfluss seiner Götter bessergestellt ist.“
„Meine Großnichte ist ein Teil dieser Götter“, erinnerte Ebos mit einem Schmunzeln und Leén nahm davon Abstand, einen weiteren Schritt auf Ila zuzumachen.
Nun traf Kylons Blick Leén und sie sah das Bedauern in den schwarzen Augen. Nur gerade so wurde er von den Ausläufern der Farbe rund um den Gott berührt und sein Blick brachte Leén zum traurigen Lächeln. „Ich weiß“, sagte Machairi dann und verbarg sein Bedauern nicht. Leén spürte nur einen leichten Stich, dass sie nicht gemeinsam hier sein würden. Tief in ihrem Inneren hatte sie es geahnt. Ihr Platz war nicht in der Unterwelt und es schien der falsche Ort für ewige Zweisamkeit.
„Nun gut. Ich rufe jene Wesen zurück, über die ich die Kontrolle habe, und niemand nimmt Schaden, sofern man mich nicht am Heimkehren hindert. Dafür gebt ihr mir hier und jetzt den fehlenden Rest eurer Magie und als zusätzliche Bedingung erfüllst du die andere offene Abmachung und nimmst den verdammten Thron ein. Ich gehe keine Risiken ein.“ Ebos bot eine Hand an.
Machairi zögerte. Dachte er an all die Gründe, warum er diesen Thron nicht gewollt hatte? Leén hätte es verstanden, wenn er abgelehnt hätte. Schließlich hatte er selbst festgestellt, dass sie Ebos hinhalten konnten, bis ihr Vater versagte. Doch dann nahm Kylon die Hand des Gottes an. „Gut.“
Kylon löste den bedeutungsvollen Handschlag und ging am Gott des Charakters vorbei. Leéns Herz begann zu rasen und hätte die Farbe bis hierher gereicht, wäre sie sichtbar rot geworden. Verlegen lächelte sie, während seine Finger sacht über ihre strichen, doch er ging an ihr vorbei zu Ila. Es war kein glückliches Wiedersehen. Der rechtmäßige König hockte sich neben seine Schwester und hob den Dolch auf, den Leén dort achtlos hatte liegenlassen. Mit zwei gezielten Hieben konnte seine kleine Schwester ihre Hände befreien und er hielt sie fest, bevor sie in sich zusammensank, zu schwach von Ebos‘ Gewalt. Es hätte ein glückliches Bild sein können, als Kylon seine kleine Schwester wieder im Arm hielt, wie sie gemeinsam am Boden saßen und einem Ende ihres endlosen Fluches entgegensahen. Doch es war vielmehr ein trauriger Anblick. Er führte Leén ein weiteres Mal vor Augen, wie sehr diese beiden Menschen gelitten hatten, und als Ebos erneut die Hand ausstreckte, um die letzte Magie zu rauben, Kylons Umarmung verkrampfte und Ila ein schmerzvolles Wimmern von sich gab, wandte Leén den Blick ab.
Erst als sie hörte, dass jemand tief Luft holte, wagte sie wieder hinzusehen. Ila saß gegen den Pfahl gelehnt und hatte eine Hand auf die geöffnete Bluse gedrückt. Kein schwarzes Mal entstellte die Haut darunter und sie atmete tief und erleichtert. Ihr Bruder hatte sich entspannt, hielt ihre Hand und schenkte ihr ein vages, bedrücktes Lächeln. Auch Leén sah den sanften Schimmer, der die Königstochter umgab, und wie sie langsam zu verblassen schien, als das dunkle Mal sie nicht länger and die Unterwelt band. „Du wirst ein großartiger König“, hauchte Ila mit einer Träne und einem Lächeln. „Leb wohl …“
Machairi schluckte sichtlich. „Die Nacht ist sternenklar“, antwortete er mit belegter Stimme und hielt ihre Hand, bis ihre Finger ihm entglitten und nur ein leichtes Glitzern in der Luft zurückblieb. Wenigstens hatten sie noch einen friedlicheren Abschied bekommen.
Bevor Leén etwas sagen oder tun konnte, irgendetwas, durchzuckten helle Blitze die Kuppel. Ebos stand neben dem gefüllten Gefäß und genoss mit weit ausgebreiteten Armen, wie sich die Magie der Königskinder entfaltete. Mehr und mehr Blitze durchzuckten den Raum, nährten die Säule und durchbrachen das Kuppeldach. Trümmerteile fielen hinab und der Lichtstrahl schoss weiter in den Himmel. Er zerbarst einen der zwölf verdunkelten Monde, sprengte ihn auf und dann trat der Herr der Unterwelt ins Licht. Die Erde bebte, die Trümmer fielen und Ebos war fort. Noch einen Augenblick knisterte und zischte sein magischer Rammbock und dann war es plötzlich still.
Machairi war aufgestanden und blickte auf die Stelle, and der zuvor das Gefäß gestanden hatte. Nun war nichts weiter zurückgeblieben als ein dunkler Brandfleck auf dem Mosaik des Bodens. Zögernd trat Leén an ihn heran und schob die Finger in seine Hand. Langsam wandte er sich ihr zu und fuhr mit der freien Hand durch ihr Haar. Der Hauch eines Lächelns durchbrach die Traurigkeit, aber es vermochte sie nicht zu vertreiben. Sie schluckte schwer, halb traurig halb verlegen und schmiegte sich schüchtern an seine Hand. Sie wusste, dass sie beide gehen mussten. Sie spürte die göttliche Magie in der Brust brennen und er hatte einen Handel zu erfüllen, der sie nicht mit einbezog. Wo sollte sie nur anfangen? Es gab noch so viel zu sagen. „Ila hat recht“, flüsterte sie schließlich. „Du bist, was Cecilia jetzt braucht.“
Er schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen ihre. Seine Hand drückte ihre und sie hörte das Beben seines Atems. „Ich kann nicht mehr.“ Seine Stimme war leise und etwas darin war gebrochen. Es trieb Leén die Tränen in die Augen und machte es unmöglich, die Traurigkeit zurückzuhalten.
Sie schniefte ganz leise. „Alles wird gut“, hauchte sie. Das Kribbeln unter ihrem Brustbein wurde stärker und gab einem Moment Dringlichkeit, der es nicht verdient hatte, abgekürzt zu werden. Die Wahrheit war, dass sie ihn erneut zurücklassen würde und dass sie sich loslassen mussten. Er war alles, was Cecilia brauchte, aber Cecilia war nicht alles, was er brauchte. Es tat ihr leid. Behutsam ließ er ihre Hand los und legte die Arme um ihre Taille. Dieses Mal bat er sie nicht zu bleiben. Aber sie spürte die Bitte dennoch. Eine heiße Träne rann über ihr Gesicht und sie küsste ihn vorsichtig. Er schmeckte salzig und nach verlorener Zeit. Doch er war noch nicht fertig in dieser Welt und deshalb musste sie ihn wieder loslassen. „Auf Wiedersehen“, hauchte sie. „Bis du fertig bist.“ Und sie zwang sich zu einem tränennassen Lächeln. Er antwortete nicht, aber sie küssten sich, bis das Licht sie mitnahm.


Die Emotionen.... hach! Dieses Kapitel ist - offenischtlich - das Schlüsselkapitel der ganzen Reihe. Es passiert so viel und es war so emotional anstrengend. Nachdem wir ihm jetzt das erste Mal wirklich begegnet sind (bis auf die Sache mit Vica but ... you know) was haltet ihr von Ebos? Findet ihr, dass er ein guter Antagonist ist? Ist er überhaupt wirklich der Antagonist der Geschichte? Ich wollte ihm zumindeste eine Gelegenheit geben, seine Seite der Geschichte vorzutragen. Bis ich es geschrieben habe, wusste ich nicht, wie diese Szene ablaufen würde, denn ich habe sie tausende Male in meinem Kopf hin und her geschoben und verändert. Es war wirklich sehr intense. Habt ihr am Anfang schon gewusst, dass es ein Leénkapitel ist oder ist es euch erst im zweiten Absatz klar geworden? Ist es nicht cool, dass unsere Tote nochmal eine Stimme bekommt? Ich bin jedenfalls very happy damit und finde, dass jetzt zwei wichtige Beziehungen einen würdigen Abschluss gefunden haben.

Jetzt stellt sich natürlich nur noch die Frage, was ab jetzt in der sterblichen Welt abgeht und es ist defintiv der richtige Zeiptunkt um Vermutungen darüber anzustellen, wie es nun im Endeffekt ausgehen wird, was noch geschieht und wie das alles ein Ende finden wird? Hit me with theories :)