47. Kapitel - Asche und Rauch


Kefa brannte nicht mehr. Das rote Leuchten war erloschen und mit den scharfen Böen, die über die Stadt fegten, wurde auch der Rauch fortgetragen. Micos Herz war noch immer verkrampft vor Schreck, aber Lia und Tilo waren noch da, ebenso ungläubig wie er. Nur Gwyn war fort. Er war mit dem Feuer erloschen und nichts war zurückgeblieben.
Der Magier schluckte schwer und dankte dem Feuerspucker innerlich. Dankte ihm, weil er seine Familie gerettet hatte und verfluchte ihn dafür, dass er nun fort war. Die Trauer darüber vermischte sich mit der Wut auf Vica, die seine Haut zum Lodern brachte und von ihr getrieben sah er zu Vica hinauf, die auf dem Rücken ihres Drachen saß und nicht damit gerechnet hatte. Für einen Augenblick starrte sie ebenfalls perplex auf die Stelle, an der Gwyn verschwunden war, und Mico wurde schmerzlich bewusst, dass nun nichts mehr zwischen ihrer Blutrunst und seiner Familie stand. Nichts außer ihm. Bevor sich die blinde Furie fassen konnte, war er an Gwyns Stelle gehechtet un d beschwor den schnellsten Schild seines Lebens. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, welche Dienste der gegen den letzten Drachen geleistet hatte, weil er sofort die tiefen Narben auf Gesicht und Brust schmerzen spürte.

Vica schüttelte den Kopf. „Er hatte immer schon einen Hang zur Dramatik“, sagte sie und klang so abscheulich gleichgültig, dass er sie einmal mehr erwürgen wollte. Er hatte nie echte Mordlust verspürt, auch wenn ihn die Wut auf viele Menschen lange umgetrieben hatte. Doch Vica hätte er auch mit bloßen Händen das Leben auspressen wollen und er hätte jeden erdenklichen Zauber auf sie geschleudert, hätte nicht immer noch Mazulis vor ihr über dem Drachenhals gehangen. Der Anblick zerriss etwas in ihm. Wenn er seinen Sohn nicht lebend zu seiner Mutter zurückbringen konnte, würde er nicht mit sich leben können. Lia, Mazulis und Tilo waren alles, was zählte, und nur über seine Leiche würde Vica ihnen Schaden zufügen.
„Du bist natürlich vollkommen fern jeder Dramatik“, knurrte er und stabilisierte den Schild. „Ich kann die Toten nicht zum Leben erwecken. Du kannst es gerne versuchen, aber erst gibst du mir meinen Sohn zurück.“ Hätte er doch nur irgendetwas gehabt, um sie ebenfalls unter Druck zu setzen. Wenn alles, worum sie sich noch scherte, ihre Rache war, konnte er kaum etwas tun, um sie ihr zu gewähren. Zedian hatte Machairi erstochen und so war vermutlich immerhin der Plan aufgegangen. Es bedeutete aber auch, dass der Messerdämon ihnen in diesem Kampf nicht zur Hilfe kommen konnte und es war nicht schwer zu sehen, warum ihnen das zum Verhängnis werden würde.
Das Gesicht der bleichen Fuchsfrau war zu einer wütenden Grimasse verzogen, während sie ihre Möglichkeiten abwog. „Hm, lass mich nachdenken. Nein.“ Damit gab sie ihrem Drachen ein zweites Mal ein Zeichen und Mico stemmte die Füße in den Boden, um dem Angriff des Drachen gegenzuhalten. Doch der blieb aus. Das mystische Wesen hatte den Kopf schief gelegt und betrachtete Mico und als seine Reiterin ihn zum Feuerspucken zwingen wollte, kam nichts als ein kleines Rauchwölkchen aus den zuckenden Nüstern. Dann fuhr der Drache fort, interessiert zu schnuppern, und Vica ließ ein ärgerliches Schnauben verlautbaren. „Dummes Ding“, fuhr sie ihren Drachen an und knurrte.
Bevor sie einen zweiten Versuch starten konnte, wurden Schritte von der Hauptstraße laut. Viele Schritte. Und einen Augenblick später füllten gepanzerte Soldaten den Platz vor dem Zylontempel. Dieses Mal schienen sich Drache und Reiterin einig zu sein, denn die nicht mehr Blinde war kaum herumgefahren, um die Bedrohung zu betrachten, da hatte sie ihren Drachen schon in die Lüfte erhoben und flog aus der Reichweite der Fußsoldaten. Mazulis nahm sie mit.
Mico ließ die Hände sinken und sein unsichtbarer Schild verschwand. Er musste sich nicht unbedingt vor einer ganzen Staffel Soldaten als Magier gebärden. Mit fest zusammengepressten Lippen sah er dem Drachen nach, der sein Kind entführte, und drehte sich zu Lia um. Ihre Augen schwammen vor Tränen und sie klammerte sich an Tilos Ärmel fest, dessen Gesicht so aschgrau war, als hätte er dem Tod persönlich ins Auge geblickt. Vorsichtig zog Mico seine Freundin zu sich, das Mädchen, das er über alles liebte, und hielt sie fest im Arm. Die Angst um sein Kind mischte sich mit der Angst um sie, während er fieberhaft überlegte, wie er Vica überlisten konnte. „Ich hole ihn zurück“, versprach er leise und strich über ihr Haar, als sie sich an ihn drückte und ihn ihr Zittern spüren ließ.
„Wir“, flüsterte sie. „Wir holen ihn zurück.“ Sie sah zu ihm auf, das Gesicht tränenüberströmt, aber dennoch voller Entschlossenheit. Hätte er einen Plan gehabt, hätte er vielleicht die Energie gefunden, ihr diesen Wahnsinn auszureden. So konnte er nur ein einziges Argument bringen.
„Ich möchte dich nicht auch noch in Gefahr bringen“, murmelte er in ihr Haar.
„Und ich werde nicht einfach warten und hoffen.“ Lia befreite sich aus seiner Umarmung und straffte sich. „Wie besiegt man einen Drachen, ohne Mazulis zu verletzen?“ Erwartete sie, dass er eine Antwort darauf hatte.
„Ich habe nicht sehr viel Erfahrung im Drachen Besiegen“, murmelte er und fuhr sich unwillkürlich über die Narbe, „aber ich denke, der Schlüssel liegt in der durchgedrehten Reiterin.“ Vor allem mussten sie sich beeilen. Wenn Vicas Geduld nur halb so fragil war wie ihr Verstand, würde seinem Sohn nicht viel Zeit bleiben, bevor sie etwas unbeschreiblich Boshaftes tat. Die einzige Hoffnung sah Mico darin, dass sie wusste, dass er sich nicht trauen würde, sie ernsthaft anzugreifen, so lange sie seinen Sohn in ihrer Gewalt hatte.
Gleiches konnte man allerdings von den Soldaten nicht behaupten. Er fuhr zusammen, als die Gepanzerten eine provisorische Balliste aufbauten und der Webel befahl: „Schießt bei Sichtkontakt in Reichweite augenblicklich.“
Zedian schritt ein bevor Mico es konnte. „Die Reiterin hat eine Geisel“, informierte er ruhig und ließ sich ein Schwert reichen, um seine leere Schwertscheide zu füllen.
„Jemand Wichtiges?“, fragte der Webel zurück und hob die Augenbrauen. Der Satz stieß Mico bitter auf.
„Ein Kind.“ Auch Zedian hob die Augenbrauen. „Schießt nur bei klarem Schuss auf die Reiterin.“
Der Webel schüttelte den Kopf, dass der lächerliche Ehrenbüschel auf seinem Kopf wippte. „Liègi, bei allem Respekt, ein einziges Kind …“
Wut ballte sich in Mico und er stapfte auf den Befehlshaber zu. Dieser Mann würde nicht das Leben seines Sohnes verspielen, weil er es als nicht wichtig genug betrachtete. Vielleicht verstand er sogar, dass jemand zu dem Entschluss kommen würde, lieber ein Kind zu töten, als den Drachen weiter wüten zu lassen, aber das änderte nichts daran, dass er nicht bereit war, seinem Kind beim Sterben zuzusehen.
Zedian hielt ihn mit einer Geste auf. „Schießt nur auf die Frau“, wiederholte er ruhig. „Ein verletzter Drache wird nur gefährlicher und wird mehr als ein Kinderleben kosten.“ Dann drehte er sich zu Mico um. „Es ist dein Kind?“, erkundigte sich der Prinz. Mico, der noch immer den Webel ansah, nickte nur mit zusammengepressten Lippen. „Nun gut. Aktuell ist dieser Drache die größte ersichtliche Gefahr. Dabei muss es allerdings nicht bleiben. Das bedeutet: Je schneller wir Drache und Reiterin stoppen und ihre Geisel befreien, desto besser können wir den Schaden begrenzen.“
„Wir habe nichts gegen sie in der Hand, wenn sie unbedingt einen Toten töten will.“ Die Sorge um seinen Sohn verdrehte ihm die Eingeweide und er sah finster zu dem kleinen Schatten in weiter Ferne am Himmel, der der Drache sein musste.
„Nun, im Grunde ist er nur so gut wie tot“, bemerkte Zedian kryptisch und blieb ruhig, als wäre ihm etwas Derartiges schon häufiger passiert. „Aber nachdem ihr Sündenbock mutmaßlich tot ist, muss sie entweder nachgeben oder ihren Ärger auf jemand anderen projizieren. Ich hatte gehofft, dass es mich treffen würde, aber scheinbar hat sie dich gewählt. Sie wird dich angreifen, wenn sie die Gelegenheit bekommt.“
„Ich gebe sie ihr gerne, wenn ich dafür mein Kind zurückbekomme.“ Er würde sich lieber ein weiteres Mal vor einen Drachen stellen, sich zerfleischen lassen oder dem feurigen Atem zum Opfer fallen, als hier zu versagen. Er mochte Probleme haben, ein guter Vater zu sein, aber er war gut genug, um zu wissen, dass er nichts unversucht lassen würde.
„Wir müssen sie als erstes von ihrem Reittier holen. Wenn du sie ablenkst, wäre es vielleicht möglich, sie zu überrumpeln.“ Mico befürchtete, dass ein solches Unterfangen schwieriger sein würde, als Zedian es hier darstellte. Vica hatte ihre eigenen unnatürlich scharfen Sinne und die eines Drachen, um einen Hinterhalt zu erkennen. Das musste schon eine verdammt gute Ablenkung sein.
„Gehen wir davon aus, dass das durch irgendein Wunder funktionieren würde … dann hätten wir noch immer einen wilden Drachen, der von niemandem mehr im Zaum gehalten wird.“ Er dachte wieder an die gelblichen Augen, die ihn gemustert hatten, und straffte unwillkürlich die Schultern.
Darauf trat Tilo etwas näher heran. „Müsste es nicht in der Akademie jemanden geben, der einen Drachen ruhig halten kann?“, schlug Micos Bruder vor und sah zu dem dunklen Schatten in den Wolken empor, der in sicherem Abstand seine Kreise zog, sodass die Geschütze ihn nicht erreichen würden.
Nachdenklich folgte Mico seinem Blick und dachte an Spítha zurück. „Kontrolle über ein derartig mächtiges Magiewesen dürfte eine Unmöglichkeit sein“, murmelte er schließlich, während er im Kopf selbst jeden Magier durchging, den er für mächtig genug hielt, um auch nur eine Aussicht auf Erfolg zu haben.
„Sie kontrolliert ihn irgendwie“, warf Lia vorsichtig ein, nicht ohne einen unsicheren Blick auf den fremden Prinzen zu werfen. Ob sie von seinem Titel oder von seiner Herkunft verunsichert wurde, war für Mico nicht offensichtlich, doch die Angst um Mazulis ließ sie alles andere hintenanstellen.
Tilo schmunzelte leicht. „Man müsste ihn doch gar nicht kontrollieren. Beruhigen oder überhaupt mit ihm zu kommunizieren, könnte doch schon ausreichen.“ Mico fing einen eindringlichen Blick seines Bruders auf und versuchte, seine Andeutung zu verstehen. „Wir sollten es zumindest probieren und jemanden schicken, der nachfragt.“ Tilos Augen zuckten einmal zu Lia. „Wenn jemand eine Lösung hat, dann doch dort, oder nicht, damit wäre das ein wichtiger und unausweichlicher Schritt.“ Wieder blickte der jüngere Herzogssohn auf Lia und sah dann seinen Bruder an und nun war er schon fast zu offensichtlich.
„Ja, du hast recht“, lenkte Mico ein. Lia in die Akademie zu bringen, war schließlich von Anfang an sein Plan gewesen und wer wusste schon, ob sich dort nicht vielleicht tatsächlich eine Lösung finden lassen würde … oder wenigstens ein Fragment, auf dem sich eine Lösung aufbauen ließ. „Ich bringe euch hin, um im Zweifelsfall als Verteidigung bereit zu stehen, und dann versuche ich, Vica zu beschäftigen, während ihr nach einem Naturisten sucht … ein Illusionsmagier könnte auch hilfreich sein, wenn nichts anderes in Frage kommt.“
Lia funkelte ihn an und er fühlte sich ertappt. „Du könntest mir einfach sagen, dass du mich in Sicherheitsverwahrung geben willst“, bemerkte sie spitz und Mico öffnete den Mund, ohne zu wissen, was er darauf sagen wollte.
Zum Glück kam Zedian ihm zur Hilfe. „Das mag kein hervorragender Plan sein, aber es ist zumindest ein Plan. Ich werde mir Unterstützung holen und mich bemühen, Vica im rechten Moment vom Rücken dieses Drachen zu holen.“ Der Prinz nickte Mico zu und warf einen Blick auf die Soldaten. „Bewacht den Tempel. Er ist das Ziel. Verteidigt ihn.“ Dann wandte Hareths Thronfolger sich ab und verschwand in den noch immer schwelenden Straßen, nicht etwa in Richtung des Schlosses, sondern in die entgegengesetzten Straßen. Scheinbar war er der Ansicht, dass keine weitere Diskussion nötig war, und Mico fragte sich, ob sie sich vielleicht alle so sehr darauf verlassen hatten, dass Machairi … Machairi war, dass sie unwillkürlich sofort nach jemandem gesucht hatten, der diesen Platz einnehmen konnte.
„Gut, dass wir das so detailliert besprochen haben“, murmelte auch Tilo und sah dem Harethi mit gerunzelter Stirn nach.
Mico zuckte mit den Schultern. Was sollten sie noch besprechen. Zedian hatte recht: Keiner von ihnen würde einen besseren Plan ausbrüten, bevor es zu spät war, und mit einem schlechten Plan zu arbeiten, war definitiv besser, als gar keinen Plan zu haben. „Komm“, forderte er sie deshalb auf, nahm Lias Hand und eilte auf die Akademie zu, deren goldene Silhouette sich nur entfernt jenseits der verbliebenen Rauchschwaden abzeichnete. Die noch schwelenden Reste der Häuser, an denen sie vorbeiliefen, verbreiteten toxische Gase in der Luft und Mico bemühte sich, nicht tiefer zu atmen, als unbedingt notwendig.
Nur Lia war nicht zufrieden. „Mico, ich werde mich nicht in irgendeine Schule sperren lassen, während diese Monsterfrau meinen Sohn festhält!“ Sie ließ sich dennoch mitziehen, auch wenn Mico wusste, dass er diese Diskussion deshalb noch lange nicht gewonnen hatte.
„Niemand will dich einsperren!“ Sie kletterten über die Reste eines eingestürzten Hauses, die sich über die Straße verteilt hatten und sahen vorsichtshalber nicht zu genau zwischen die Trümmer. „Einsperren und Unterstützung holen, sind nicht das Gleiche.“
„Du solltest die Person sein, die in die Akademie geht – du kennst dich dort aus. Ich kann mit ihr sprechen. Von Frau zu Frau?“ Mit jedem Schritt, den sie sich der Akademie näherten, wehrte sie sich mehr gegen sein Ziehen.
Mico schnaubte. „Glaub mir, Vica ist weit jenseits von freundlichen Unterhaltungen, und ich werde dich ganz sicher nicht ohne jede Verteidigung vor einen Drachen stellen.“ Die alten Wunden auf seiner Haut waren ohnehin ungewöhnlich spürbar und Lia hatte keine Magie, um sich zu beschützen.
„Du hast doch nichts anderes vor!“ Nun stemmte sie die Beine in den Boden und blieb stehen. „Du kannst aufhören, mich ständig zu bevormunden! Das ist mein Sohn!“
Tilos Unruhe machte nichts besser. „Ist das jetzt der richtige Zeitpunkt …“
„Unser Sohn“, korrigierte Mico, ohne auf seinen Bruder zu achten, und war zu seiner Freundin herumgefahren. „Und ich werde keinen von euch verlieren!“
„Wir sollten …“
„Und ich werde nicht tatenlos rumsitzen!“ Die ihre verzweifelte Angst hatte sich zu echter Wut hochgeschaukelt und entlud sich wie sonst selten.
„Mico, da ist…“
„Du sollst doch gar nicht rumsitzen! Wir brauchen jemanden, der diesen Drachen kontrollieren kann. Warum ist das eine schlechte Aufgabe? Nur weil du dabei sicherer bist?“ Auch Micos Geduld neigte sich dem Ende zu und die Angst um sie schnitt alle anderen Ängste ab.
„Wenn es so eine wichtige Aufgabe ist, kannst du sie ja übernehmen. Du weißt wenigstens, wonach du suchen musst, Herr Magier!“
Tilo stieß sie beide an. „Ihr müsst …“
Sie ignorierten ihn. „Ich habe wenigstens eine Chance, gegen einen Drachen zu überleben.“ Er deutete auf seine Narben. „Und das auch nur mit einer Menge Glück. Vica wird dir nicht zuhören. Schon alleine, weil sie weiß, dass ich dich …“
„Verdammt, hört auf mit dem Mist und schaut mal einen Moment nach vorn!“, fuhr Tilo dazwischen. „Da ist jemand“, fügte er leiser hinzu, als das streitende Paar ihm endlich ihre Aufmerksamkeit widmete.
Gleichzeitig drehten Mico und Lia die Köpfe nach vorn. Tatsächlich glaubte Mico, in den neblig dichten Rauchschwaden die dunkeln Konturen einer Gestalt zu erkennen. Krumm und gebückt stand sie zwischen den Trümmern, wie ein Geist. Immer wieder verdeckten die aufwallenden Wolken die dunklen Umrisse und für einige Atemzüge, starrte die kleine Familie einfach in den Rauch, der in den Augen brannte und in der Lunge stach. Dann erkannte Mico ein leichtes Flackern, als hätte jemand erneut ein Feuer entfacht, doch das Leuchten war von einem sanften Lila und glomm in der Luft wie eine ferne Lampe. Dann wurde es plötzlich heller und der Schein immer größer und viel zu spät fühlte Mico die Magie, die ihm entgegenschlug. „Lauft!“, hörte er Tilo schreien und konnte kaum glauben, dass sein kleiner, nichtmagischer Bruder schneller reagiert hatte als er und Lia und Mico zur Seite in Deckung stieß. Sie fielen noch, als die Explosion den Boden unter ihnen erschütterte, und Mico traf so hart gegen die Wand eines der Häuser, dass es ihm kurz den Atem raubte.
Dann schlugen endlich auch seine Reflexe an und er kam auf die Beine und schlich sich mit klingelnden Ohren direkt an die Ecke, während Lia und Tilo noch auf dem Boden lagen. Mico unterdrückte ein Husten. Betäubt vom Aufprall und den benebelnden Gasen, die die Explosion hinterlassen hatte, sammelte er gerade genug Konzentration, um einen schnellen Blick um die Ecke zu wagen. Die Gestalt schritt langsam näher, unsicher und schwach, doch sie war bereits nah genug, dass Mico die abgerissenen Kleider um die fragile Gestalt zuordnen konnte und spätestens, als eine weitere Giftflasche in sein Blickfeld flog, hatte er keinen Zweifel mehr an der Identität des Magiers. Ein kurzer Chaoszauber, nichts als ein kurzer Energieschub in der Luft, brachte die bauchige Flasche von ihrem Kurs ab, sodass sie stattdessen mit einem ohrenbetäubenden Knall in die gegenüberliegende Wand einschlug und das Gebäude zum Wanken brachte. Trümmer und Staub flogen und er hörte Lia husten.
Adrenalin schoss durch seine Adern, war der einzige Grund, dass er das hohe Klingeln in seinen Ohren, das Beißen in den Atemwegen und das Zittern genug verdrängen konnte, um einen etwas konzentrierteren Energieball zu formen. Er hätte dringend mehr als nur diesen einen sinnvollen Kampfzauber gebraucht, aber er würde ihn nicht aus reinem Zufall jetzt erlernen, und so wagte er den Bruchteil eines Blickes und schoss mehr nach Gefühl als zu zielen. Er spürte, dass der Zauber ein Ziel traf, aber ob es den Mann oder eine Mauer oder gar einen Unbeteiligten getroffen hatte, konnte er nicht bestimmen. Ausgereicht hatte es keinesfalls, denn eine dritte Flasche flog und landete direkt vor Tilos ausgestreckten Füßen. Der schnelle Schildzauber konnte die Explosion nicht komplett verhindern, sodass Splitter und Funken flogen, aber er verhinderte, dass sie alle augenblicklich pulverisiert wurden.
„Tu was!“, wimmerte Lia, die sich an der Wand zusammengekauert hatte und die Hände auf die Ohren presste.
Das war der mächtigste Schwarzmagier, den die Welt je gesehen hatte. Was sollte ein Schlossknacker mit mangelhafter Ausbildung, der in dieser Ecke festsaß, gegen Merifas ausrichten? Der Mann mochte in erster Linie ein Giftmischer sein, aber er war eindeutig vorbereitet, und Mico hatte nichts. Hilfesuchend sah er zu seinem Bruder, der noch immer ausgestreckt auf dem Rücken lag, mit tränenden Augen in den Himmel starrte und hektisch atmete. Vollkommen paralysiert schien er nicht in der Lage, sich weiter an die Wand zu drücken, und Mico fiel nichts Besseres ein, als in aller Eile einen hoffentlich effektiveren Schirm zu beschwören.
Jede Flasche flog mit größerer Präzision, weil der Werfer immer näherkam, und Mico stemmte sich mit aller Kraft in seinen Schildzauber, als die nächste Flasche direkt dagegen prallte. Taub vom Knall und blind von Rauch und Staub hielt er die Explosion zurück, die den Schild auffraß wie eine gierige Bestie ein besonders schmackhaftes Stück Fleisch. Der Schweiß rann ihm in die Augen und er schmeckte Asche und Blut. Mit jeder Sekunde wurde das Husten etwas schlimmer und ein weiterer tränenverschleierter Blick zu seiner Familie kam mit der furchtbaren Gewissheit, dass er sie nicht hier herausbringen konnte. Merifas würde sie erreichen und Mico wusste nicht, wie viele solcher Explosionen oder gar anderer Gifte er noch aufhalten konnte. Wenn er etwas tun wollte, musste er es jetzt tun.
Das Chaos unter seinen bebenden Fingern wuchs und pulsierte, es saugte den Staub ein, während Mico das feine Energiegeflecht der Welt willkürlich neu verknotete und immer weiter ballte. Er hatte einen guten Sinn für die Feinheiten der Magie, was ihn zu einem hervorragenden Schlossknacker machte. Dafür war er gänzlich ungeeignet, die rohe Masse pulsierender Energie zu kontrollieren, und die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Chaos sich an ihm und nicht an dem Schwarzmagier entladen würde, wuchs mit jedem Faden, den er hinzufügte. Trotzdem sammelte er mehr davon, mit jedem bebenden Atemzug. Mico drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, suchte nach Halt und Stabilität, während seine Beine unter dem selbstgerufenen Chaos einzuknicken drohten. Er konnte es nicht mehr halten, spürte, dass ihm die Kontrolle entglitt und sammelte dennoch weiter, nur noch ein Blinzeln mehr, und dann drehte er sich um. Gerade in dem Moment, als noch ein violettes Geschoss auf ihn zuflog, drehte er sich in die Gasse und richtete alles, was er hatte, gegen den Magier.
Die verkorkte Explosion traf auf den Strom chaotischer Energie, verband sich zu einem tödlichen Tornado und erschütterte die Gasse. Mico hechtete zurück hinter die Ecke und kauerte sich neben Lia. Der Schild, den er zu beschwören versuchte, barst unter der Gewalt der entfalteten Energie, und hätten sie direkt in der Gasse gesessen, statt in diesem Hauswinkel, hätten sie keine Überlebenschance gehabt. Doch sie atmeten noch, als die Explosion verklang, und er spürte Lias Haar in seinem Gesicht. Taumelnd kam er auf die Beine, wankte an die Hauskante und grub die Finger in den zerfurchten Stein. Das Haus auf der anderen Straßenseite war verschwunden. An seiner Stelle prangte ein dunkler, schwelender Krater im Boden und Mico sah Merifas, ebenfalls schwankend und mit einem feurigen Glimmen in der angekohlten Robe und doch noch immer lebendig. Der Blick der stechenden Augen fand Micos vorsichtiges Spähen und ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren und trotzdem trat er hinter der Häuserecke hervor, sorgsam darauf bedacht, sich nicht von den Schatten hinter dem legendären Magier ablenken zu lassen. Er hielt den Blick und legte die letzten Funken seiner Kraft in einen Schild, der nichts halten würde, was der Magier auf ihn schoss, ganz gleich, wie schwach es war. Das Zwicken eines Schmunzelns zuckte über das entstellte Gesicht und Mico konzentrierte sich auf die tödliche Flasche in der Hand des Magiers. Er sah, wie sie die knochigen Finger verließ, und spürte dennoch die Genugtuung, die das kurze überraschte Flimmern auf dem Gesicht des Magiers hervorrief.
Die Flasche flog in einem schwachen Bogen und schlug auf halbem Wege ein. Splitter flogen und Mico drehte sich ab und schützte den Kopf mit dem Armen, als sie sich in seine Kleider bohrten und viele kleine Schnitte verursachten. Doch als er wieder aufsah, als das magische Pulsieren der Explosion verklang, konnte er trotzdem grinsen. Ein müdes, bescheuertes Grinsen, aber ein Grinsen. Der dunkelste Magier aller Zeiten mochte ein unschlagbar mächtiger Giftmischer sein, aber er war dennoch ein fragiler alter Mann. Ein Senior, der zu beschäftigt damit gewesen war, Mico in die Unterwelt zu schicken, um auf die Zerstörung hinter sich zu achten … oder auf das Mädchen mit der armdicken Stange.
Prinzessin Koryphelia blutete aus einer bösen Platzwunde am Kopf und auch sie wankte leicht. Merifas lag vor ihr am Boden wie ein loser Haufen von Knochen und starrte mit leeren Augen ins Nichts, die letzten Spuren der Überraschung noch immer auf das zerfallene Gesicht gebannt, ebenso wie die Angst, die ihn im Moment der Erkenntnis ergriffen hatte. Der Weg hinüber war mit bebenden Knien und benommenem Kopf weiter als erwartet. Das Mädchen sah noch immer zwischen der stumpfen Waffe in ihrer Hand und dem reglosen Körper hin und her.
„Ist er…“, flüsterte sie und ihre Stimme verlor sich wie flüchtiger Rauch.
Ganz langsam hockte sich Mico neben den reglosen Magier, vorsichtig, um ja kein Risiko einzugehen, obwohl er längst wusste, was seine Überprüfung ergeben würde. Er hasste Heilkunde und alles was damit zusammenhing, aber er war in der Lage zu überprüfen, ob jemand noch Lebenzeichen von sich gab. „Ja“, murmelte er dann und kam schwankend wieder auf die Beine. Ein Hoch auf primitive Waffen.
Das Trümmerteil glitt aus den Fingern der Prinzessin und fiel mit einem Klappern auf die geschwärzten Pflastersteine. „Oh“, hauchte sie und mit jedem Augenblick schienen ihre Hände mehr zu zittern.
„Er war ein furchtbarer Mann lange jenseits seiner natürlichen Lebensspanne“, erinnerte Mico vorsichtig, in der Hoffnung, sie damit etwas zu beruhigen, und das Mädchen nickte langsam.
Doch eine andere Stimme ließ ihn alles vergessen. „Mico?“ Die hohe Panik in Lias Rufen ließ ihn herumfahren und er stolperte zurück über die zerfurchte Straße, stürzte fast über die Überbleibsel der Explosion und ließ sich neben Lia fallen. Sie hockte neben Tilo, der noch immer auf dem Rücken lag und zwischen hektischen Atemzügen hilfesuchend zwischen ihnen hin und her sah.
Mico sah Blut in den Kleidern seines Bruders und wie bleich er geworden war, und er wusste, dass es ernst war. Sein kleiner Bruder versuchte etwas zu sagen, aber seine Lippen bebten so sehr, dass nur ein unverständliches Schluchzen zu hören war.
Die kurze Erleichterung über Merifas Tod war verblasst und ein neuer Würgering legte sich um sein Herz. „Alles wird gut“, hörte Mico sich lügen. Weder seine Heilkünste noch seine schwindende Kraft würden ausreichen, um eine ernsthafte Verletzung ausreichend zu behandeln. „Versuch, ruhig zu atmen, und bleib wach, hörst du?“ Seine Stimme bebte, als er die Stoffbahnen auseinanderschob, doch die Wunde musste auf dem Rücken sein, denn Mico fand zwar Blut, doch keine direkte Verletzung. Die Hosenbeine waren versengt und die Haut darunter verbrannt von der zu nahen Explosion.
Tilos bebender Atem beruhigte sich kaum und noch immer schien er etwas flüstern zu wollen. „Es tut nicht weh“, verstand Mico, als er sich näher zu ihm herunterbeugte, und er hörte die Panik darin. „Ich fühle es nicht“, wimmerte sein kleiner Bruder und Mico presste die Lippen aufeinander.
„Wir müssen ihn in die Akademie bringen“, brachte er hervor und griff nach dem Arm seines Bruders, um ihn auf die Füße zu ziehen. „Helft mir“, fügte er hinzu, als weder Lia noch Koryphelia, die ihm leise gefolgt war, sich rührten.
„Mico“, flüsterte Lia und ihre Augen schwammen vor Tränen, die helle Spuren über ihr rußgeschwärztes Gesicht zeichneten. „Wir sollten ihn nicht bewegen.“
Wenn er sich tatsächlich den Rücken verletzt hatte, stimmte das vermutlich, aber es würde nicht besser werden, wenn sie ihn hier liegen ließen. Hilfe würde so schnell keine kommen. Fieberhaft dachte er nach. Er war zu schlecht mit dem lebendigen Körper, aber vielleicht konnte er seinen Bruder anders stabilisieren. Wie viel Magie bekam er noch zu Stande? Konzentriert kniff er die gereizten Augen zusammen, unter denen augenblicklich helles Licht aufzublitzen schien, und er wusste, dass er – falls er den Tag überleben sollte – ewige Traumata davontragen würde. Trotzdem waren Angst und Adrenalin noch präsent genug, dass er erneut Magie rief und den weichen, verdreckten Stoff von Tilos Kleidern langsam verwandelte. Aus weichem Stoff wurde fester Stoff, aus festem Stoff harter Stoff, bis das Material, dass Tilo umhüllte, nicht mehr als Stoff zu qualifizieren war und den Herzogssohn in die gleiche Position bannte. Es würde ihn schwerer zu tragen machen, aber es würde hoffentlich weiteren Schaden verhindern. Leider dauerte es zusätzlich nervenaufreibend lange und fraß an Kraftreserven, von denen er nicht gewusst hatte, dass sie existierten.
Quälend langsam schleppten sie den fixierten Tilo durch die zertrümmerte Stadt. Der Weg zur Akademie hätte nicht mehr weit sein dürfen, doch er dauerte eine quälende Ewigkeit. Einmal sah Mico den Drachen in der Ferne über sich, doch er wagte sich nicht nah genug an die Schlossmauern, um ihnen gefährlich zu werden. Es erinnerte ihn jedoch daran, dass Tilos Gesundheit nicht der einzige Grund zur Eile war, und obwohl die beiden Mädchen und er selbst bereits unter der Anstrengung ächzten, wankte er weiter.
Vor der Akademie stapelten sich die Leichen und sie waren nicht die einzigen Verletzten, die sich ihren Weg zum Tor bahnten. Die Schleuse war aufgesprengt worden und angesichts jüngster Erfahrungen konnte er sich gut vorstellen, wer das gewesen sein mochte. Heiler eilten im Hof umher, versorgten die Verwundeten, die es schafften, sich aus eigener Kraft hineinzuschleppen. Die Magier verließen die Akademie nicht und als Mico die magische Kuppel über sich spürte, verstand er auch wieso. Bis zur Eingangstür schafften sie es, vorbei an ächzenden Menschen mit grausamen Verletzungen. Tilo war bleich und sein Kopf eierte leicht über seinem Kokon, während er unverständliche Dinge lallte. Auf keinen Fall wollte Mico ihn zurücklassen und auch die schützenden Zauber über ihm waren eine Erleichterung. Es war verlockend, einfach hier zwischen den anderen auf dem Boden sitzen zu bleiben und seine Kräfte zu sammeln und irgendetwas von dem zu verarbeiten, was geschehen war. Doch dieser Luxus war ihm nicht vergönnt. Stattdessen zwang er sich wieder auf die Beine und strich einmal sanft über Lias Hand. „Bitte kümmert euch um ihn“, bat er sie und wollte ihre Finger nicht loslassen müssen. „Ich hole Mazulis.“
Lia antwortete nur mit einem Nicken und unterdrückte ein Schluchzen, als ihre Finger seine verloren und er sich seinen Weg über die Verletzten zurück suchte. Mico versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass er sie vermutlich nie wiedersehen würde, dass dies ein grauenvoller Abschied war und dass er sich in einen Kampf begab, den zu gewinnen er keine Mittel hatte. Er konnte von niemandem verlangen, dass er mit ihm ging. Er würde keine Armee von Magiern aufstellen können, die ihm den Rücken stärkten und seine mangelnde Erfahrung und erschlagende Schwäche ausglichen. Sie alle hatten Wichtigeres zu tun, hatten zahllosen Verletzten zu helfen und den letzten Hort der Sicherheit zu verteidigen. Er war allein. Lia würde keine Zeit haben, um ihm drachenzähmende Unterstützung zu schicken, wenn sie sich um Tilo kümmern sollte, für den es hoffentlich noch nicht zu spät war. Dann würden sie wenigstens aufeinander achtgeben können.
Seine unsicheren Schritte führten ihn vorbei an unzähligen Toten und noch viel mehr Verletzten, deren Körper sie nicht mehr bis zur Akademie tragen würden. Sie waren verbrannt und von Trümmern erschlagen worden, andere hatten sie in der Massenpanik niedergetrampelt oder sie waren im Rauch erstickt. Es war dringend Hilfe nötig, aber Mico konnte sie nicht geben. Stattdessen ging er so weit in Richtung des Bienenstocks hinab, wie die Straßen es zuließen, bis zu viele Trümmer seinen Weg versperrten, und dann suchte er sich ein Dach.
Wenn man über mehrere Jahre bei den Schatten der Stadt lebte, lernte man, wie man sich über Dächer bewegte. Gwyn war stets der bessere Athlet gewesen und Mico hatte sich auf den morschen Schindeln und sanierungswürdigen Dachfirsten dieser Stadt nie besonders wohl gefühlt. Trotzdem fand er seinen Weg auf das höchste, halbwegs intakte Haus, das er finden konnte. Es war schwarz vor Ruß und lehnte sich an seine halbeingefallenen Geschwister. Die Reste verbrannter Dachbalken eines Nachbarhauses reckten sich in die Luft wie ein schwarzes Gerippe und auch wenn Gwyns Selbstlosigkeit die Flammen gelöscht hatte, waren die Spuren des Drachenfeuers fatal. Mühsam fand Mico Halt an einem Schornstein und glaubte, dass seine Knie bald unter ihm nachgeben mussten. Erschöpfung hielt ihn gefangen und doch holte er so tief Luft, wie er konnte, was beinahe in einem Husten geendet hätte, und rief aus voller Kehle: „Vica!“ Immer wieder brüllte er den Namen seiner Feindin in den grauen Himmel, bis der gewaltige Schatten eines Drachens über ihm sichtbar wurde und sein Herz zum Stolpern brachte. „Gib mir mein Kind!“, befahl er dennoch, obwohl er ihr noch immer rein gar nichts entgegenzusetzen hatte.
„Hast du etwas, um dafür zu bezahlen?“, erklang Vicas Häme über ihm und schürte seine Wut.
„Papa?“, hörte er Mazulis rufen. Angst zerrte an der kleinen Stimme und Mico grub die schmutzigen Finger in die Handflächen, als sich seine Hände zu Fäusten ballten. Er hätte diese Frau zerfetzt, wenn er gekonnt hätte.
Mico schluckte. „Du hast mir keinen Preis genannt.“ Der Drache landete vor ihm auf dem Dach und schien sich wesentlich besser unter Kontrolle zu haben als noch vor Stunden im Bienenstock, die eine Ewigkeit her zu sein schienen.
„Oh doch.“ In der heraufziehenden Dunkelheit wirkte das Fuchsmädchen selbst wie ein Schatten. Eine dämonenhafte Kreatur hockte dort auf dem Rücken des mächtigen Flugtiers und sah auf ihn hinab, und er fühlte sich furchtbar hilflos.
„Zedian hat Machairi erstochen, Vica“, sagte Mico so ruhig, wie seine Stimme es zuließ. „Das kann ich nicht ändern. Was willst du noch von mir?“ Keine Antwort. „Willst du mich betteln sehen? Ist es das? Oder willst du mich töten? Was muss ich tun, damit du ein unschuldiges Kind gehen lässt?“
„Ich wollte nichts als ein wenig Frieden und keiner von euch hat ihn mir gelassen. Das hier ist Rache, falls du es noch nicht bemerkt hast. Rache für alles, was ihr mir und meinesgleichen antut!“
„Wie? Indem du die schlimmsten Erwartungen erfüllst?“ Mazulis gab einen Schrei von sich, als Vica ihm einen Ellenbogen in den Rücken stieß, und Mico kniff die Augen zusammen, als könnte das den Stich mindern, der ihm die Brust zerriss. „Lass ihn gehen. Bitte.“ Ja, er war vollkommen bereit, hier – auf diesem schäbig wackelnden Dach, vor einem Drachen, der ihn viel zu aufmerksam musterte – eine Frau anzuflehen, gegen die sich ein abgrundtiefer Hass geballt hatte. „Du mochtest mich schon immer genauso wenig wie ich dich. Wenn du meinst, dass das ein guter Grund für Rache ist, meinetwegen, aber zieh ihn nicht mit rein.“
Vica lachte und es verknotete seine Eingeweide. „Warum nicht? Offensichtlich ist er das perfekte Werkzeug.“ Sie gab ihm einen kräftigen Klaps gegen den Hinterkopf und Mico spürte Magie unter seinen Finger prickeln. Erschöpft oder nicht, diese Frau würde ihn bald zu einem Ausbruch sondergleichen treiben. „Und glaubst du wirklich, dass ein spionierender Verräter und Herzogsbastard keine Strafe verdient hat?“
Er verschluckte die Frage, wer von ihnen der größere Verräter war, nur mühsam. Auch der Kommentar, dass er mit ziemlicher Sicherheit kein Bastard war, kam ihm nicht über die Lippen. Er brauchte eine Gelegenheit. Oder Zedians Hilfe. Würde der Prinz hier auftauchen? Würde der Drache sichtbar genug sein, dass er überhaupt wusste, wo er suchen musste? War er nah genug, dass er sie erreichen konnte? Lebte er überhaupt noch? Selbst wenn er es allein tun musste, würde es sich lohnen, Vica hinzuhalten, bis er eine gute Gelegenheit fand. „Die Spionagegeschichte war nur eine Ausrede vor diesen Soldaten“, beschwor er die Wahnsinnige. „Ja, mein Vater war Großherzog und er hat mich in die Akademie gesperrt, als er herausgefunden hat, dass ich dummerweise zusätzlich mit Magie geboren worden war. Ich bin weggelaufen. Nichts weiter. Ich habe nicht darum gebeten, Sohn eines elitären Arschlochs zu sein!“ Das war wahr genug. Die Angelegenheit mit Lia und dass erst die ungewollte Beziehung zu seiner Sklavin dazu geführt hatte, dass sein Vater ihn nicht mehr gedeckt hatte, musste er nicht erwähnen.
„Nicht genug“, befand sie kühl. Wieder trat sie nach seinem Kind und wenn sie ihm nur etwas mehr die Flanke des Drachen gezeigt hätte, hätte er sie vielleicht mit der prickelnden Magie zwischen seinen Fingerspitzen angreifen können. So würden die Drachenzähne ihn zermalmen, bevor er auch nur genügend Magie gesammelt hatte. Aber was, wenn er einen neuen Winkel finden konnte?
Das Dach war nicht sehr stabil unter seinen Füßen und er hätte besser ein weniger Steiles gewählt. Er musste sich am Schornstein festhalten, um bei seinem Vorhaben nicht abzurutschen und in die Gasse zu stürzen. Es widerstrebte ihm, aber er hatte kaum Karten zu spielen und dies schien ihm der letzte gangbare Weg, wenn er eine Chance wollte. Seine Knie trafen die klapprigen Schindeln mit einem leisen Knirschen und er befürchtete, dass eine davon in die Tiefe rutschen könnte, auch wenn diese Haltung möglicherweise sicherer war, als zu stehen. Es widerstrebte ihm, vor Vica zu knien, doch es war gleichzeitig seine einzige Hoffnung noch genug zu tun. „Ich habe nie behauptet, ein guter Mensch zu sein. Wenn du also beschlossen hast, dass ich bestraft werden sollte: Meinetwegen. Folter oder töte mich in welcher Form auch immer du es in deiner abgedrehten Überzeugung für richtig hältst.“ Nie zuvor hatte er seine Worte gleichzeitig derartig ernst gemeint und trotzdem lieber zurückgenommen. Das einzige Entscheidende war, dass Mazulis diese Situation lebend verließ. Vica war schon lange nicht mehr mit Verstand beizukommen, aber die Bewegung am Rande seines Blickfelds weckte Hoffnung. „Aber lass es an mir aus und nicht an meinem Sohn!“
Vica lachte. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte und es war unmöglich zu sagen, ob das ein frustriertes, ein ernsthaft amüsiertes oder vielleicht gar ein peinlich berührtes Lachen war. Dieser Moment der Unaufmerksamkeit war die perfekte Gelegenheit. Zwei Harethi sprangen vor, ein Seil zwischen ihnen. Der fremde Mann konnte sich bewegen und springen, wie es nicht hätte möglich sein sollen und drehte sich durch die Luft, geradewegs über den Hals den Drachen hinweg, und obwohl es ein denkbar simpler Versuch war, schlang sich der Hanf um Vicas Bauch und zerrte sie von ihrem Sitzplatz. Es hätte funktioniert, wäre der Drache nicht gewesen. Vicas Hand fand einen der Rückenstacheln und der gewaltige Schwanz fegte gegen die beiden Angreifer und wischte Zedian vom Dach wie eine kleine Fliege. Vielleicht, wenn der Mann, der einst in weiß gekleidet gewesen sein musste, bevor Asche und Rauch die Stadt heimgesucht hatten, weniger patriotisch gewesen wäre, hätte er sein Werk allein vollbringen können. Doch der Harethi ließ das Seil los und griff stattdessen nach dem Prinzen, bevor er vom Dach stürzen konnte, und Vicas Klauenfinger durchtrennten das Geflecht. Auch Micos hektischer Zauber war zu unkoordiniert, zu unpräzise und zu schnell. Vielleicht, wenn er weniger erschöpft gewesen wäre, hätte er es besser gekonnt. So flog das Geschoss an seinem Ziel vorbei, verfehlte Mazulis um Haaresbreite, der zu strampeln begonnen hatte, und dann hatte sich Vica wieder in ihren Platz gezogen. „Ganz grober Fehler, Micolazius“, zischte sie mit dem Wind, den die Drachenflügel aufwirbelten, als sich der Drache erhob.
Immer höher schraubte sich das Tier in den Himmel und nahm Mazulis ein weiteres Mal mit. Mit weit aufgerissenen Augen sah er zu, konnte nichts tun, als erstarrt zuzusehen, wie Vica eine tödliche Höhe weit überschritt. „Vica!“, rief er, die Panik nun so deutlich in der Stimme und im Herzen, dass er selbst beinahe in die Trümmer hinabgestürzt wäre. „Komm zurück!“ Kurz sah es aus, als stockte der Drache tatsächlich, Mico glaubte zu sehen, dass das Tier zu ihm blickte, doch dann flog es weiter, immer weiter fort und außer Reichweite.
Er suchte nach einem Zauber, doch seine Finger bebten so sehr, dass er kaum ein magisches Glimmen zustande brachte. Seine Kräfte waren endgültig aufgezehrt und dann fiel ein kleines Paket vom Rücken des Drachen und Mico hörte sich schreien. Mazulis fiel wie ein Stein. Er überschlug sich in der Luft, purzelte dem tödlichen Erdboden entgegen durch die Dunkelheit. Ein nutzloser Hauch eines untauglichen Zaubers griff nach dem Kind, streifte es wie eine sanfte Brise, die einen verzweifelten Abschied bekundete. Eine Welt brach zusammen, als Mazulis in unerreichbarer Nähe auf die Straße prallte. Die Zeit stand still und Mico konnte nicht glauben, dass sein Herz weiterschlug, laut gegen seine Rippen trommelte und ihn den Schmerz fühlen ließ, dem auch der lauteste Schrei keine Linderung verschaffte. Er vermischte sich mit dem Hass zu einer zähen Masse. Hass auf alles und jeden. Auf den Boden, den Drachen, den Prinzen. Sich selbst. Und Vica. Hass war schon lange nicht mehr genug, um das Gefühl zu beschreiben, das ihn erfüllte. Der Drache hatte kehrt gemacht, hielt wieder auf sie zu und eine Stichflamme erhellt die Nacht und Mico suchte nach Magie. Er würde auch mit den Fäusten kämpfen, wenn es nötig war. Vica würde diese Nacht nicht überleben.
Noch näher kam der Drache und spie eine weitere Stichflamme, die die Gasse erhellte, bevor sie sich in der Nacht verlor. Nur deshalb konnten Micos Augen sehen, was sein Verstand nicht glauben konnte. Der Boden der Straße federte noch immer ein wenig. Dort zwischen Trümmerteilen, die mit ihm wippten, bis die Wucht des Falls ausgeklungen war, saß ein einigermaßen unversehrter Junge. Es dauerte ein endloses Blinzeln, nachdem die Flammen erloschen waren, bis Mico verstand, dass nicht nur Machairi die Magie seines Vaters geerbt hatte, und ein herrliches Gefühl der Erleichterung sich ausbereitete. Ein endloses Blinzeln zu lange, denn plötzlich war der Drache über ihm und Mico fiel auf das Dach zurück. Er rutschte die Schindeln ein Stück hinab, bevor er abgefangen wurde und auf dem Rücken lag, einen gewaltigen Drachen über sich, der ihn mit einer Klaue festhielt, die Nase auf seine Brust senkte und Micos stolperndem Herzschlag lauschte, bevor er die Zähne bleckte.

Ja, wenn ihr hier gelandet seid, hasst ihr mich vielleicht nicht mehr XD. Ich hoffe, dass es zwischendurch der Fall war. Nein, ich habe das einzige Kind in der Geschichte nicht umgebracht. Es sind so viele Dinge in diesem Kapitel. Tilo, Merifas, Kory, Zedian, die Viper, Mazulis und natürlich Mico und Vica. Hat euch die Dynamik gefallen? Nachdem wir diesen zweiten großten Teil des Finales nun abgeschlossen haben: Wie findet ihr das Ende so? Es kommt jetzt nämlich nur noch wirklich der Abschluss. Was passiert noch? Was passiert mit Mico und Vica? Wie geht alles aus? Who lives, who dies, who tells the story?

Wir bekommen noch zwei Kapitel und zwar in den nächsten zwei Tagen (watch the countdown). Ich habe das letzte Kapitel heute fertiggeschrieben und bin noch immer excited und glücklich darüber. Ich habe das Ende nicht verkackt, wie ich finde, auch wenn ich zwischendurch ernsthafte Zweifel hatte. Also nutzt diese letzte Gelegenheit, um noch wichtige Theorien über alle Schicksale abzugeben, damit ihr hinterher sagen könnt "Ha, ich hab's gewusst!" Wir sehen uns morgen!

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