Als Person, die Hamilton seit zwei Jahren eigentlich in Dauerschleife hört, habe ich mir natürlich am 3. Juli 2020 den Film auf Disney Plus gegönnt. Es ist schwer, dieses Meisterwerk nicht zu lieben und damit fast unmöglich, eine echte Kritik dazu zu schreiben, die nicht die reinste Lobeshymne wird. Normalerweise ist es nicht so schwierig, einen reflektierten Eindruck von einem Film, einem Theaterstück, einem Buch oder einem Album zu bekommen. Vielleicht muss man ab und an einen Schritt zurück machen, aber spätestens dann läuft alles. Dieses Mal ist es schwieriger. Das Musical Hamilton von Lin-Manuel Miranda begeistert Menschen überall auf der Welt und es ist wirklich nichts Schlechtes daran zu finden. Lasst uns trotzdem darüber sprechen.
Das MusicalHamilton ist ein Broadwaymusical, das am 20.01.2015 Premiere hatte (06.08.2015 am Broadway). Es erzählt die Geschichte von Alexander Hamilton, des in Vergessenheit geratenen Gründervaters von Amerika, der noch heute auf der 10-Dollar-Note abgebildet ist. In zweieinhalb Stunden und 46 Songs geht es um Krieg, Liebe, Politik und Freundschaft im Leben des ambitionierten Waisenkindes. Besonders ist an dem Musical, dass es nur zwei sehr kurze Szenen im Theater gibt, die im Endeffekt nicht auf dem „original broadway cast recording“ zu hören sind, da das Musical tatsächlich vollständig gesungen wird. Gesungen und gerappt, denn Hamilton ist ein Hip-Hop Musical.
Abgesehen von den Tatsachen, dass es allein musikalisch und textlich ein Meisterwerk ist, so viele Themen anspricht, dass für jeden etwas dabei ist und die Geschichte sehr lebhaft gestaltet worden ist, hat die Produktion für die große Diversität unter den Schauspielern sehr viel Lob bekommen. Es ist wirklich nicht so einfach, ernstzunehmende kritische Stimmen zu finden. Tatsächlich wird Hamilton sogar von Leuten gemocht, die sonst überhaupt nichts mit Rap und Hip-Hop anfangen können. Der einzige echte Kritikpunkt – abseits von persönlichen Präferenzen – den man vielleicht sehen muss, ist die historische Akkuratesse. Obwohl die meisten Details korrekt sind, gibt es doch ein paar Fakten, die für das Storytelling angepasst worden sind. Aus kreativer Sicht - meiner Meinung nach - ein verzeihbarer Fehler, wenn auch vielleicht etwas schade für Geschichtslehrer, die das dann ausbaden müssen. Außerdem findet man auf dem Hamilton Mixtape einige Songs, die es nicht ins endgültige Musical geschafft haben. Darunter das Cabinet Battle Nummer drei, das die Debatte um die Sklaverei um 1800 thematisiert hätte. Das Thema wird in der Show immer wieder angeschnitten und ist vor allem im ersten Akt von Bedeutung, fällt dann aber im zweiten leider unter den Tisch. Auch die Darstellung von Maria Reynolds und Samuel Seabury ist … nennen wir es problematisch.
Es gibt also ein paar kleine Punkte, die man ansprechen könnte, wenn man wirklich unbedingt Fehler finden wollte, aber ganz ehrlich: Ich finde das Musical wundervoll ausbalanciert und erzählt. Es ist ein brillantes Meisterwerk und wird uns sicher noch viele Jahre beschäftigen und zu den wenigen Kunstwerken gehören, von denen wir unseren Enkelkindern nicht erzählen müssen, weil sie es selbst noch kennen.
Ja. Elly, wir haben verstanden, dass du Hamilton magst. Wollten wir nicht über den Film reden?
Der Film
Abgefilmte Theaterbühnen sind aus theaterwissenschaftlicher Sicht mit Vorsicht zu genießen. Es ist natürlich klar, dass der Effekt einer echten Bühne, einem echten Theatersaal mit richtiger Livemusik einen ganz anderen Effekt hat, als eine gefilmte Bühne vom Bett aus über einen kleinen Bildschirm zu betrachten. Das Erlebnis ist im Theater ganz anders vereinnahmend und schließlich auch anders konstruiert.
Was viele Theaterfilme tun, ist einfach eine Kamera ins Publikum zu stellen und die Bühne einmal abzufilmen. Man bekommt also quasi eine secondhand Theatererfahrung, oft in diskutabler Qualität. Das ist natürlich dufte, wenn man eine besondere Aufführung einfach nur festhalten will, aber zum Anschauen und Erleben ist es … nun, zweitklassig eben. Besonders in Zeiten, da man wahnsinnige Blockbuster mit drölfzig Kamerawinkeln, Kamerafahrten und Perspektiven gewohnt ist, zieht so ein Mitschnitt beträchtlich an den Nerven. Insofern möchte man sagen: Gut, dass der
Hamilfilm
das anders macht.
Die Filmversion setzt sich aus mehreren Aufführungen an aufeinanderfolgenden Tagen zusammen, die teilweise mit und teilweise ohne Publikum gefilmt worden sind. Es gibt also durchaus Close-ups, Kamerafahrten, Wechsel in der Perspektive und alles Drum und Dran. Zunächst halte ich also für mich fest, dass es durchaus eine bewegende Erfahrung war und es sich definitiv gelohnt hat, diese Filmversion zu schauen. Ich habe natürlich wieder tausend Tränen vergossen und in vielen Momenten hat sich jedes noch so kleine Härchen aufgestellt, weil es absolut wahnsinnig war. Allerdings kann ich nicht ausschließen, dass das meiner generellen Leidenschaft für dieses Musical geschuldet sein könnte. Die Kostüme, die Tänze … es passiert einfach so viel auf dieser Bühne, was die Show unglaublich bereichert und es war beeindruckend, wie gut die Schauspieler auch im direkten Close-up im „facial acting“ waren. Trotzdem sind das alles Dinge, die auf der echten Bühne auch passieren (bis auf die Sache mit dem Close-up natürlich.) Ich habe Hamilton durchaus schon live gesehen, wenn auch leider nicht im original Cast und es war sensationell.
Im direkten Vergleich muss ich tatsächlich sagen, dass die echte Theatererfahrung noch ein Quäntchen besser ist und ich bin froh, dass ich die zuerst sehen durfte. Die Tatsache, dass jede Show ein klein bisschen anders ist und damit eine gewisse Individualität erhält, ist für mich jedes Mal eine wahnsinnig spannende Theatererfahrung. So hat damals in London der Schauspieler von Alexander an einer Stelle seinen Text vergessen (We neg… … … stagger home single file.) und nach der Pause war eine andere Eliza auf der Bühne, weil es Rachelle Ann Go nicht gut ging. Kurzum: es sind Fehler passiert und das war etwas Gutes. Es hat gezeigt, wie lebendig das Theater ist und mir das Gefühl gegeben, dass ich etwas erlebt habe, was vollkommen individuell für diesen Tag war. Die Filmversion dagegen ist ein optimierter Zusammenschnitt aus fünf Versuchen und auch wenn der ein oder andere Ton vielleicht nicht absolut spot-on ist, und man zumindest ein live Audio hat, merkt man doch, dass man eine nachbearbeitete Version bekommt. Selbstverständlich. Wenn das mein Film gewesen wäre, hätte ich auch Fehler rausgeschnitten, keine Frage. Trotzdem steht es hinter echtem Theater zurück. Was mich dagegen gar nicht gestört hat, war in diesem Fall der Jubel des Publikums (der für mich sonst ein Grund ist, einen Film abzubrechen), der an einigen ausgewählten Stellen zu hören war. Das war sehr gerechtfertigt und gehörte dazu, da es sich schließlich offensichtlich um eine Theateraufführung handelte. Somit hat der Applaus dem Ganzen mehr Leben eingehaucht.
Als weiterer Punkt fand ich, dass das eben als positiv erwähnte Element der Kameraperspektive zwischendurch etwas viel des Guten war. Natürlich ist es ein beeindruckendes Bild, ein tanzendes Ensemble von oben oder King George von hinten auf das Publikum zuschreiten zu sehen. Allerdings hat es mich in solchen extremen Momenten, die aus einer Perspektive gedreht waren, die man im Theater niemals einnehmen könnte, daran erinnert, dass ich eben nur ein abgefilmtes Theater und kein echtes Theater sehe, was ich eher weniger reizvoll fand. Dagegen waren die Nahaufnahmen ein ziemlicher Gem. Im Trailer und im Vorhinein war ich skeptisch, weil ich es schade fand, dass einem damit die Möglichkeit verwehrt wird, auf die Dinge zu achten, die außerhalb des Kamerawinkels passieren. Im Nachhinein war es das Opfer absolut wert. Die Emotionen und die zentralen Elemente aus nächster Nähe zu sehen hat sich wirklich gelohnt und nur noch einmal gezeigt, wie wahnsinnig gut viele dieser Schauspieler sind. Besonders gegen Ende, wenn man die Tränen auf den Gesichtern der Schauspieler sieht, wie sie tatsächlich mit ihren Figuren leiden, weinen und die Unterlippe bebt, statt nur ihre Stimme brechen zu hören, bricht es einem das Herz.
Schön ist auch definitiv, dass man die Möglichkeit bekommt, den originalen Cast zu sehen, auch wenn man nicht zufällig vor 2016 am Broadway war. Dabei ist vielleicht zu erwähnen, dass es leichtes Pech für die Schauspieler ist, dass es das offizielle Recording gibt. Das macht den direkten Vergleich natürlich unausweichlich. Der Geschichte hat es nicht geschadet. Im Gegenteil würde ich sogar behaupten, dass es für mich mitreißender war, weil ich ganz genau wusste, wann mein Herz zerspringen wird. Trotzdem bemerkt man natürlich, dass zum Beispiel Leslie Odom Jr. als Aaron Burr zwar eine sehr gute Leistung hinlegt, von Charismabomben wie Daveed Diggs und auch Lin-Manuel Miranda aber an die Wand gespielt und gesungen wird.
Mein absolutes Highlight aus einer szenischen Sicht ist und bleibt Satisfied. Die Choreografie hat im ganzen Stücke viele Stärken und symbolträchtige Details, aber Satisfied ist einfach wundervoll gestaltet. Das „Rewind“, das im tatsächlichen Zurückspulen gespielt worden ist, ist grandios. Ich will an dieser Stelle gar nicht zu viel vorwegnehmen, aber ich empfehle dringend schon ab „Helpless“ sehr genau aufzupassen und sich dieses szenische Meisterwerk richtig auf der Zunge zergehen zu lassen. Es funktioniert nämlich auch in der filmischen Variante sehr gut. Gleiches kann man leider nicht für alle Stellen sagen. Einer der emotionalsten und ergreifendsten Momente der Show, ist in den allerletzten Sekunden und der wirkt leider so viel besser, wenn man tatsächlich im Publikum sitzt, dass es ein bisschen schade ist. Es war trotzdem hochgradig bewegend, aber im Theatersaal war es noch vereinnahmender.
Generell gibt es in der Liveshow interessante Details, die man auf der CD nicht bekommt. Es lohnt sich also auf jeden Fall, ein Bild zu dem Ton zu haben, das ist keine Frage. Das Meiste davon funktioniert auch auf dem Fernsehbildschirm gut und ist damit definitiv ein Pluspunkt gegenüber der CD.
Fazit
Hamilton ist ein großartiges Musical, das ist fast unumstritten. Die eigentliche Theaterversion ist absolut sehenswert und eine dringende Empfehlung, nicht nur für Theaterliebhaber und Hip-Hop-Fans. Die Filmversion, die seit zwei Tagen auf Disney Plus verfügbar ist, fängt dieses Meisterwerk insgesamt sehr gut ein. Es bleibt ein Glanzstück der Musicalgeschichte und es ist eine wunderbare Gelegenheit, um sich die Urbesetzung, die aus wahrlich fantastischen Schauspielern besteht, aus nächster Nähe anzusehen. Auch wenn der filmischen Version ein bisschen von dem Zauber des Theaters verlorengeht, hat das Stück es verdient, für breite Massen zugänglich gemacht zu werden. Besonders angesichts der aktuellen Lage ist es ein kulturelles Bonbon, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Ich sehe hier außerdem eine günstige Gelegenheit, um Freunde und Verwandte vor den Fernseher zu zerren, die man niemals mit ins teure Theater schleppen könnte. Hamilton hat auf jeden Fall eine Menge Potenzial, um unterschiedlichste Zielgruppen zu begeistern und dem Film ist es gelungen, diesen Zauber auf die Bildschirme zu bringen.
Meine Empfehlung ist deshalb eindeutig: Schaut euch diesen bewegenden, wunderbaren Film eines hervorragenden Musicals an, betrachtet ihn aber nicht als Ersatz für einen Theaterbesuch.
Soweit meine Meinung. Jetzt möchte ich wissen, was ihr dazu denkt! Seid ihr Hamilton-Liebhaber? Habt ihr es vielleicht schon live gesehen? Habt ihr den Film angeschaut oder werdet ihr es noch tun? Was haltet ihr davon? Schreibt eure Meinung gerne in die Kommentarsektion oder schreibt mir eine Mail, falls ihr kein Facebook habt.
Die Eule bedankt sich für euren Besuch und fliegt gemächlich in die Nacht davon. Schooos.